pse_551.001 Seele spiegeln. In ihrer Entfaltung, in ihrem Schicksal, die pse_551.002 Kern der ganzen Darstellung sind, wird die Welt um sie pse_551.003 herum greifbar. Man kann das Figurenroman nennen. Zum pse_551.004 erstenmal erscheint diese Art in besonderer Deutlichkeit im pse_551.005 "Werther". Man kann hier herein den Bildungsroman stellen, pse_551.006 auch den Schelmenroman, in dem sich Abenteuer an Abenteuer pse_551.007 reiht. Wenn man aber die "Lehrjahre" hier ausschaltet, pse_551.008 zeigt sich, daß auch diese Typologie keine eindeutige Zuordnung pse_551.009 und Aufteilung gestattet, sondern eben nur Gesichtspunkte, pse_551.010 nach denen der Gehalt und vor allem der künstlerische pse_551.011 Bau betrachtet werden können.
pse_551.012 Eine andere Sicht ergibt sich, wenn man fragt, wie sich das pse_551.013 Verhältnis des Menscheninneren zur Welt im Roman entfaltet pse_551.014 (Lukacs). Meist wird sich dabei zeigen, daß Seele und pse_551.015 Welt einander unangemessen sind, daß Spannungen zwischen pse_551.016 ihnen bestehen, deren Beschaffenheit Einteilungsmöglichkeiten pse_551.017 ergibt. Ist die Seele schmäler als die ihr zugeordnete pse_551.018 Welt, so lebt sie an ihr vorbei, will ein Ideal verwirklichen, pse_551.019 dem die Welt nicht genügt; die Seele entzaubert also die pse_551.020 Welt von ihrem Standpunkt aus. Das Innere des Menschen pse_551.021 bleibt hier unverändert, es ist reine Aktivität, aber nicht im pse_551.022 Kampf gegen die Welt, sondern im Vorbeigehen an ihr. In pse_551.023 reiner Form kann man diesen abstrakten Idealismus im "Don pse_551.024 Quijote" sehen. Man fragt sich allerdings, ob da überhaupt pse_551.025 ein Verhältnis zwischen beiden vorhanden ist und nicht bloß pse_551.026 ein reines Nebeneinander. Die Seele kann aber auch breiter pse_551.027 angelegt sein als das Schicksal, das ihr die Welt zu bieten vermag. pse_551.028 Hier wird eine reiche, in sich vollendete innere Wirklichkeit pse_551.029 aufgebaut. Die innere Fülle und Selbstsicherheit führt pse_551.030 zum Ausweichen vor der Welt, zu einer gewissen Passivität. pse_551.031 Desillusion der Welt, Maßlosigkeit und Einsamkeit sind die pse_551.032 Folge. Sicherlich gehen nicht alle Romane in diesen beiden pse_551.033 Formen auf, weil ja einleuchtenderweise das nicht die einzigen pse_551.034 Möglichkeiten sind, wie sich Seele und Welt begegnen. pse_551.035 Man hat daher behauptet, daß der "Wilhelm Meister" eine pse_551.036 Vereinigung beider Typen sei.
pse_551.037 Die immer größer werdende Weltfülle und die innere pse_551.038 Widersprüchlichkeit dieser Fülle stellen an den Roman, wenn
pse_551.001 Seele spiegeln. In ihrer Entfaltung, in ihrem Schicksal, die pse_551.002 Kern der ganzen Darstellung sind, wird die Welt um sie pse_551.003 herum greifbar. Man kann das Figurenroman nennen. Zum pse_551.004 erstenmal erscheint diese Art in besonderer Deutlichkeit im pse_551.005 »Werther«. Man kann hier herein den Bildungsroman stellen, pse_551.006 auch den Schelmenroman, in dem sich Abenteuer an Abenteuer pse_551.007 reiht. Wenn man aber die »Lehrjahre« hier ausschaltet, pse_551.008 zeigt sich, daß auch diese Typologie keine eindeutige Zuordnung pse_551.009 und Aufteilung gestattet, sondern eben nur Gesichtspunkte, pse_551.010 nach denen der Gehalt und vor allem der künstlerische pse_551.011 Bau betrachtet werden können.
pse_551.012 Eine andere Sicht ergibt sich, wenn man fragt, wie sich das pse_551.013 Verhältnis des Menscheninneren zur Welt im Roman entfaltet pse_551.014 (Lukàcs). Meist wird sich dabei zeigen, daß Seele und pse_551.015 Welt einander unangemessen sind, daß Spannungen zwischen pse_551.016 ihnen bestehen, deren Beschaffenheit Einteilungsmöglichkeiten pse_551.017 ergibt. Ist die Seele schmäler als die ihr zugeordnete pse_551.018 Welt, so lebt sie an ihr vorbei, will ein Ideal verwirklichen, pse_551.019 dem die Welt nicht genügt; die Seele entzaubert also die pse_551.020 Welt von ihrem Standpunkt aus. Das Innere des Menschen pse_551.021 bleibt hier unverändert, es ist reine Aktivität, aber nicht im pse_551.022 Kampf gegen die Welt, sondern im Vorbeigehen an ihr. In pse_551.023 reiner Form kann man diesen abstrakten Idealismus im »Don pse_551.024 Quijote« sehen. Man fragt sich allerdings, ob da überhaupt pse_551.025 ein Verhältnis zwischen beiden vorhanden ist und nicht bloß pse_551.026 ein reines Nebeneinander. Die Seele kann aber auch breiter pse_551.027 angelegt sein als das Schicksal, das ihr die Welt zu bieten vermag. pse_551.028 Hier wird eine reiche, in sich vollendete innere Wirklichkeit pse_551.029 aufgebaut. Die innere Fülle und Selbstsicherheit führt pse_551.030 zum Ausweichen vor der Welt, zu einer gewissen Passivität. pse_551.031 Desillusion der Welt, Maßlosigkeit und Einsamkeit sind die pse_551.032 Folge. Sicherlich gehen nicht alle Romane in diesen beiden pse_551.033 Formen auf, weil ja einleuchtenderweise das nicht die einzigen pse_551.034 Möglichkeiten sind, wie sich Seele und Welt begegnen. pse_551.035 Man hat daher behauptet, daß der »Wilhelm Meister« eine pse_551.036 Vereinigung beider Typen sei.
pse_551.037 Die immer größer werdende Weltfülle und die innere pse_551.038 Widersprüchlichkeit dieser Fülle stellen an den Roman, wenn
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0567"n="551"/><lbn="pse_551.001"/>
Seele spiegeln. In ihrer Entfaltung, in ihrem Schicksal, die <lbn="pse_551.002"/>
Kern der ganzen Darstellung sind, wird die Welt um sie <lbn="pse_551.003"/>
herum greifbar. Man kann das Figurenroman nennen. Zum <lbn="pse_551.004"/>
erstenmal erscheint diese Art in besonderer Deutlichkeit im <lbn="pse_551.005"/>
»Werther«. Man kann hier herein den Bildungsroman stellen, <lbn="pse_551.006"/>
auch den Schelmenroman, in dem sich Abenteuer an Abenteuer <lbn="pse_551.007"/>
reiht. Wenn man aber die »Lehrjahre« hier ausschaltet, <lbn="pse_551.008"/>
zeigt sich, daß auch diese Typologie keine eindeutige Zuordnung <lbn="pse_551.009"/>
und Aufteilung gestattet, sondern eben nur Gesichtspunkte, <lbn="pse_551.010"/>
nach denen der Gehalt und vor allem der künstlerische <lbn="pse_551.011"/>
Bau betrachtet werden können.</p><p><lbn="pse_551.012"/>
Eine andere Sicht ergibt sich, wenn man fragt, wie sich das <lbn="pse_551.013"/>
Verhältnis des Menscheninneren zur Welt im Roman entfaltet <lbn="pse_551.014"/>
(Lukàcs). Meist wird sich dabei zeigen, daß Seele und <lbn="pse_551.015"/>
Welt einander unangemessen sind, daß Spannungen zwischen <lbn="pse_551.016"/>
ihnen bestehen, deren Beschaffenheit Einteilungsmöglichkeiten <lbn="pse_551.017"/>
ergibt. Ist die Seele schmäler als die ihr zugeordnete <lbn="pse_551.018"/>
Welt, so lebt sie an ihr vorbei, will ein Ideal verwirklichen, <lbn="pse_551.019"/>
dem die Welt nicht genügt; die Seele entzaubert also die <lbn="pse_551.020"/>
Welt von ihrem Standpunkt aus. Das Innere des Menschen <lbn="pse_551.021"/>
bleibt hier unverändert, es ist reine Aktivität, aber nicht im <lbn="pse_551.022"/>
Kampf gegen die Welt, sondern im Vorbeigehen an ihr. In <lbn="pse_551.023"/>
reiner Form kann man diesen abstrakten Idealismus im »Don <lbn="pse_551.024"/>
Quijote« sehen. Man fragt sich allerdings, ob da überhaupt <lbn="pse_551.025"/>
ein Verhältnis zwischen beiden vorhanden ist und nicht bloß <lbn="pse_551.026"/>
ein reines Nebeneinander. Die Seele kann aber auch breiter <lbn="pse_551.027"/>
angelegt sein als das Schicksal, das ihr die Welt zu bieten vermag. <lbn="pse_551.028"/>
Hier wird eine reiche, in sich vollendete innere Wirklichkeit <lbn="pse_551.029"/>
aufgebaut. Die innere Fülle und Selbstsicherheit führt <lbn="pse_551.030"/>
zum Ausweichen vor der Welt, zu einer gewissen Passivität. <lbn="pse_551.031"/>
Desillusion der Welt, Maßlosigkeit und Einsamkeit sind die <lbn="pse_551.032"/>
Folge. Sicherlich gehen nicht alle Romane in diesen beiden <lbn="pse_551.033"/>
Formen auf, weil ja einleuchtenderweise das nicht die einzigen <lbn="pse_551.034"/>
Möglichkeiten sind, wie sich Seele und Welt begegnen. <lbn="pse_551.035"/>
Man hat daher behauptet, daß der »Wilhelm Meister« eine <lbn="pse_551.036"/>
Vereinigung beider Typen sei.</p><p><lbn="pse_551.037"/>
Die immer größer werdende Weltfülle und die innere <lbn="pse_551.038"/>
Widersprüchlichkeit dieser Fülle stellen an den Roman, wenn
</p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[551/0567]
pse_551.001
Seele spiegeln. In ihrer Entfaltung, in ihrem Schicksal, die pse_551.002
Kern der ganzen Darstellung sind, wird die Welt um sie pse_551.003
herum greifbar. Man kann das Figurenroman nennen. Zum pse_551.004
erstenmal erscheint diese Art in besonderer Deutlichkeit im pse_551.005
»Werther«. Man kann hier herein den Bildungsroman stellen, pse_551.006
auch den Schelmenroman, in dem sich Abenteuer an Abenteuer pse_551.007
reiht. Wenn man aber die »Lehrjahre« hier ausschaltet, pse_551.008
zeigt sich, daß auch diese Typologie keine eindeutige Zuordnung pse_551.009
und Aufteilung gestattet, sondern eben nur Gesichtspunkte, pse_551.010
nach denen der Gehalt und vor allem der künstlerische pse_551.011
Bau betrachtet werden können.
pse_551.012
Eine andere Sicht ergibt sich, wenn man fragt, wie sich das pse_551.013
Verhältnis des Menscheninneren zur Welt im Roman entfaltet pse_551.014
(Lukàcs). Meist wird sich dabei zeigen, daß Seele und pse_551.015
Welt einander unangemessen sind, daß Spannungen zwischen pse_551.016
ihnen bestehen, deren Beschaffenheit Einteilungsmöglichkeiten pse_551.017
ergibt. Ist die Seele schmäler als die ihr zugeordnete pse_551.018
Welt, so lebt sie an ihr vorbei, will ein Ideal verwirklichen, pse_551.019
dem die Welt nicht genügt; die Seele entzaubert also die pse_551.020
Welt von ihrem Standpunkt aus. Das Innere des Menschen pse_551.021
bleibt hier unverändert, es ist reine Aktivität, aber nicht im pse_551.022
Kampf gegen die Welt, sondern im Vorbeigehen an ihr. In pse_551.023
reiner Form kann man diesen abstrakten Idealismus im »Don pse_551.024
Quijote« sehen. Man fragt sich allerdings, ob da überhaupt pse_551.025
ein Verhältnis zwischen beiden vorhanden ist und nicht bloß pse_551.026
ein reines Nebeneinander. Die Seele kann aber auch breiter pse_551.027
angelegt sein als das Schicksal, das ihr die Welt zu bieten vermag. pse_551.028
Hier wird eine reiche, in sich vollendete innere Wirklichkeit pse_551.029
aufgebaut. Die innere Fülle und Selbstsicherheit führt pse_551.030
zum Ausweichen vor der Welt, zu einer gewissen Passivität. pse_551.031
Desillusion der Welt, Maßlosigkeit und Einsamkeit sind die pse_551.032
Folge. Sicherlich gehen nicht alle Romane in diesen beiden pse_551.033
Formen auf, weil ja einleuchtenderweise das nicht die einzigen pse_551.034
Möglichkeiten sind, wie sich Seele und Welt begegnen. pse_551.035
Man hat daher behauptet, daß der »Wilhelm Meister« eine pse_551.036
Vereinigung beider Typen sei.
pse_551.037
Die immer größer werdende Weltfülle und die innere pse_551.038
Widersprüchlichkeit dieser Fülle stellen an den Roman, wenn
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 551. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/567>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.