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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Vorgang entfaltet wird. Man kann etwa ein ganzes Leben in pse_554.002
der Fülle seiner Ereignisse schon lange vor der Geburt bis pse_554.003
zum Tode oder weiter ablaufen lassen. So ist es im "Simplizissimus", pse_554.004
aber auch in Kolbenheyers "Paracelsus". Vielfach pse_554.005
aber konzentriert der Dichter auch einen solchen Lebenslauf pse_554.006
auf eine gewisse wichtige Entwicklungsstufe, wie man das in pse_554.007
vielen Bildungs- und Entwicklungsromanen sehen kann, die pse_554.008
meist dort beginnen, wo die deutliche Auseinandersetzung pse_554.009
mit der Welt einsetzt, und mit der abgeschlossenen inneren pse_554.010
Formung enden. Oder es wird überhaupt ein Roman nur um pse_554.011
ein Ereignis verdichtet, wie in den "Wahlverwandtschaften".

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Wichtig ist auch die Art, wie der Vorgang durchgeführt ist. pse_554.013
Am üblichsten, besonders im Unterhaltungsroman, aber auch pse_554.014
im Realismus des 19. Jahrhunderts, ist die Einlinigkeit. Es wird pse_554.015
eine Lebensbahn oder ein Ereignis in der Entwicklung, in der pse_554.016
es abläuft, schlicht nacheinander erzählt. In dieser Form wird pse_554.017
das epische Strömen, die Haltung des ruhigen Zuschauens am pse_554.018
deutlichsten und wirksamsten. Kurze Rückblicke und Einschübe pse_554.019
nachholender Art sind dabei durchaus möglich, ohne pse_554.020
den architektonischen Gesamtcharakter zu ändern. Sowohl die pse_554.021
"Lehrjahre" als auch der "Nachsommer" gehören dieser Art an, pse_554.022
trotz der Rückblicke am Anfang dort, am Ende hier. Der pse_554.023
"Simplizissimus", die zweite Fassung des "Grünen Heinrich", pse_554.024
der "David Copperfield", "Paracelsus", aber auch die Romane pse_554.025
Thomas Manns und Hermann Hesses sind große Beispiele. pse_554.026
Doch finden wir häufig, daß diese Einlinigkeit zerschlagen pse_554.027
oder aufgelöst wird, daß andere Aufbaugrundsätze an deren pse_554.028
Stelle treten und ein verwickeltes Gefüge entsteht. Es zeichnen pse_554.029
sich drei Möglichkeiten einer solchen Zerschlagung ab: pse_554.030
1. Wichtige Teile einer Entwicklung, die durchaus inneren pse_554.031
Selbstwert haben, werden nachgeholt und eingebaut. Das pse_554.032
Vorbild ist Homers "Odyssee", ein großes Beispiel die erste pse_554.033
Fassung des "Grünen Heinrich", wo der Dichter die Kindheit pse_554.034
und frühe Jugend des Helden in der Ich-Form an einer bestimmten pse_554.035
Stelle des Ablaufs einbaut. So kann ein starker pse_554.036
Bezugsreichtum entstehen, indem der Binnenteil aus der pse_554.037
Rahmenperspektive gesehen wird. 2. Von einem Augenblick pse_554.038
des Innenlebens werden die verschiedensten Zeiträume abgeleuchtet

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der Fülle seiner Ereignisse schon lange vor der Geburt bis pse_554.003
zum Tode oder weiter ablaufen lassen. So ist es im »Simplizissimus«, pse_554.004
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vielen Bildungs- und Entwicklungsromanen sehen kann, die pse_554.008
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mit der Welt einsetzt, und mit der abgeschlossenen inneren pse_554.010
Formung enden. Oder es wird überhaupt ein Roman nur um pse_554.011
ein Ereignis verdichtet, wie in den »Wahlverwandtschaften«.

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eine Lebensbahn oder ein Ereignis in der Entwicklung, in der pse_554.016
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deutlichsten und wirksamsten. Kurze Rückblicke und Einschübe pse_554.019
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»Lehrjahre« als auch der »Nachsommer« gehören dieser Art an, pse_554.022
trotz der Rückblicke am Anfang dort, am Ende hier. Der pse_554.023
»Simplizissimus«, die zweite Fassung des »Grünen Heinrich«, pse_554.024
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Selbstwert haben, werden nachgeholt und eingebaut. Das pse_554.032
Vorbild ist Homers »Odyssee«, ein großes Beispiel die erste pse_554.033
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und frühe Jugend des Helden in der Ich-Form an einer bestimmten pse_554.035
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Bezugsreichtum entstehen, indem der Binnenteil aus der pse_554.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 554. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/570>, abgerufen am 22.11.2024.