pse_570.001 treffen. Die Widersprüchlichkeit kann auch im Menschen pse_570.002 liegen, so etwa in Schillers Jungfrau von Orleans, in der ein pse_570.003 Spalt aufgerissen wird zwischen dem Weibtum, das ihr als pse_570.004 Mädchen auf diesen Lebensweg mitgegeben ist, und der göttlichen pse_570.005 Sendung, die dieses gerade auszulöschen verlangt. pse_570.006 Endlich kann die ganze Wirklichkeit, in der ein Mensch steht, pse_570.007 solche Gespaltenheit aufweisen, wie im "Faust" und im "Tasso". pse_570.008 Solche Urgespaltenheit ist die Voraussetzung tiefster Art für pse_570.009 jede dramatische Spannung, und sie ist unauflösbar: sie besteht pse_570.010 nach dem Ende der Handlung, nach der Katastrophe pse_570.011 weiter: immer wieder droht die Möglichkeit eines Gewissenskonfliktes, pse_570.012 wie ihn Iphigenie oder Jeanne d'Arc durchzuhalten pse_570.013 haben, und nach dem Untergang Tassos hat sich nichts an pse_570.014 der Weltstruktur geändert. Hier sind wir zugleich an den pse_570.015 metaphysischen Wurzeln, aus denen sich immer wieder pse_570.016 dramatische Gestaltung bis in alle Einzelheiten speist.
pse_570.017 Die Aufdeckung der drei Grundmerkmale dramatischer pse_570.018 Dichtung, nämlich Darstellung als Form, Gespanntheit als pse_570.019 Haltung und Urgespaltenheit als Weltbild, gestattet nun pse_570.020 einen zusammenfassenden Blick. Die drei Merkmale stehen pse_570.021 in bestimmter Beziehung zueinander: am tiefsten hinab führt pse_570.022 die Urgespaltenheit, sie ist der metaphysische Grund der pse_570.023 dramatischen Dichtung. Aus ihr ergibt sich die Angespanntheit pse_570.024 des Menschen in solcher Welt. Die wirkungsvollste Art pse_570.025 künstlerischer Gestaltung solcher Verhältnisse ist die Darstellung. pse_570.026 Es zeigt sich also, daß nicht jede darstellende Dichtung pse_570.027 schon als Drama zu bezeichnen ist. Wir können darstellende pse_570.028 Dichtungen Spiele nennen, aber erst wenn die Seinsgespanntheit pse_570.029 dazu kommt, sprechen wir von Dramen. Umgekehrt pse_570.030 ist solche Seinsgespanntheit deshalb am wirkungsvollsten pse_570.031 darstellerisch zu bewältigen, weil hier eben Figuren pse_570.032 einander sprechend und handelnd gegenübertreten, ohne daß pse_570.033 ein erzählendes Medium ihre Gegensätzlichkeit durch sein pse_570.034 Erzählen überwölbte. In konkreten Dichtungen können diese pse_570.035 drei Merkmale dramatischer Dichtung auch mit lyrischen pse_570.036 und epischen Einsprengseln durchsetzt sein, ohne daß damit pse_570.037 schon ein Werturteil gefällt wäre. Aber es muß bei Einsprengseln pse_570.038 bleiben, Lyrisches und Episches muß sich in die dramatische
pse_570.001 treffen. Die Widersprüchlichkeit kann auch im Menschen pse_570.002 liegen, so etwa in Schillers Jungfrau von Orleans, in der ein pse_570.003 Spalt aufgerissen wird zwischen dem Weibtum, das ihr als pse_570.004 Mädchen auf diesen Lebensweg mitgegeben ist, und der göttlichen pse_570.005 Sendung, die dieses gerade auszulöschen verlangt. pse_570.006 Endlich kann die ganze Wirklichkeit, in der ein Mensch steht, pse_570.007 solche Gespaltenheit aufweisen, wie im »Faust« und im »Tasso«. pse_570.008 Solche Urgespaltenheit ist die Voraussetzung tiefster Art für pse_570.009 jede dramatische Spannung, und sie ist unauflösbar: sie besteht pse_570.010 nach dem Ende der Handlung, nach der Katastrophe pse_570.011 weiter: immer wieder droht die Möglichkeit eines Gewissenskonfliktes, pse_570.012 wie ihn Iphigenie oder Jeanne d'Arc durchzuhalten pse_570.013 haben, und nach dem Untergang Tassos hat sich nichts an pse_570.014 der Weltstruktur geändert. Hier sind wir zugleich an den pse_570.015 metaphysischen Wurzeln, aus denen sich immer wieder pse_570.016 dramatische Gestaltung bis in alle Einzelheiten speist.
pse_570.017 Die Aufdeckung der drei Grundmerkmale dramatischer pse_570.018 Dichtung, nämlich Darstellung als Form, Gespanntheit als pse_570.019 Haltung und Urgespaltenheit als Weltbild, gestattet nun pse_570.020 einen zusammenfassenden Blick. Die drei Merkmale stehen pse_570.021 in bestimmter Beziehung zueinander: am tiefsten hinab führt pse_570.022 die Urgespaltenheit, sie ist der metaphysische Grund der pse_570.023 dramatischen Dichtung. Aus ihr ergibt sich die Angespanntheit pse_570.024 des Menschen in solcher Welt. Die wirkungsvollste Art pse_570.025 künstlerischer Gestaltung solcher Verhältnisse ist die Darstellung. pse_570.026 Es zeigt sich also, daß nicht jede darstellende Dichtung pse_570.027 schon als Drama zu bezeichnen ist. Wir können darstellende pse_570.028 Dichtungen Spiele nennen, aber erst wenn die Seinsgespanntheit pse_570.029 dazu kommt, sprechen wir von Dramen. Umgekehrt pse_570.030 ist solche Seinsgespanntheit deshalb am wirkungsvollsten pse_570.031 darstellerisch zu bewältigen, weil hier eben Figuren pse_570.032 einander sprechend und handelnd gegenübertreten, ohne daß pse_570.033 ein erzählendes Medium ihre Gegensätzlichkeit durch sein pse_570.034 Erzählen überwölbte. In konkreten Dichtungen können diese pse_570.035 drei Merkmale dramatischer Dichtung auch mit lyrischen pse_570.036 und epischen Einsprengseln durchsetzt sein, ohne daß damit pse_570.037 schon ein Werturteil gefällt wäre. Aber es muß bei Einsprengseln pse_570.038 bleiben, Lyrisches und Episches muß sich in die dramatische
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treffen. Die Widersprüchlichkeit kann auch im Menschen pse_570.002
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Spalt aufgerissen wird zwischen dem Weibtum, das ihr als pse_570.004
Mädchen auf diesen Lebensweg mitgegeben ist, und der göttlichen pse_570.005
Sendung, die dieses gerade auszulöschen verlangt. pse_570.006
Endlich kann die ganze Wirklichkeit, in der ein Mensch steht, pse_570.007
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Solche Urgespaltenheit ist die Voraussetzung tiefster Art für pse_570.009
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wie ihn Iphigenie oder Jeanne d'Arc durchzuhalten pse_570.013
haben, und nach dem Untergang Tassos hat sich nichts an pse_570.014
der Weltstruktur geändert. Hier sind wir zugleich an den pse_570.015
metaphysischen Wurzeln, aus denen sich immer wieder pse_570.016
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pse_570.017
Die Aufdeckung der drei Grundmerkmale dramatischer pse_570.018
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Haltung und Urgespaltenheit als Weltbild, gestattet nun pse_570.020
einen zusammenfassenden Blick. Die drei Merkmale stehen pse_570.021
in bestimmter Beziehung zueinander: am tiefsten hinab führt pse_570.022
die Urgespaltenheit, sie ist der metaphysische Grund der pse_570.023
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Es zeigt sich also, daß nicht jede darstellende Dichtung pse_570.027
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Dichtungen Spiele nennen, aber erst wenn die Seinsgespanntheit pse_570.029
dazu kommt, sprechen wir von Dramen. Umgekehrt pse_570.030
ist solche Seinsgespanntheit deshalb am wirkungsvollsten pse_570.031
darstellerisch zu bewältigen, weil hier eben Figuren pse_570.032
einander sprechend und handelnd gegenübertreten, ohne daß pse_570.033
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 570. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/586>, abgerufen am 22.11.2024.
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