pse_044.001 Für unsere Zwecke unterscheiden wir zwei Gruppen. In der pse_044.002 ersten wird durch eine bestimmte Artbezeichnung im Untertitel pse_044.003 irgendwie ein Anspruch erweckt, als Dichtung zu gelten, pse_044.004 oder der Leser ist bis zu einem gewissen Grade berechtigt, pse_044.005 eine solche zu erwarten. Solche Titel sind: Roman, historicher pse_044.006 Roman, Novelle, Drama, Trauerspiel, Komödie, Lustspiel pse_044.007 usw. Von gewagteren wollen wir schweigen. Diese Bezeichnungen, pse_044.008 mit denen wir uns noch ausgiebig beschäftigen pse_044.009 müssen, spielen in der Dichtungslehre eine große Rolle. Man pse_044.010 hat mit ihnen ganz bestimmt Arten von Dichtungen bezeichnet pse_044.011 und tut es heute noch. Aber mit der Zunahme der Buchproduktion, pse_044.012 besonders mit der immer wachsenden Flut von pse_044.013 Romanen und mit bestimmten Entwicklungen der Geschmacksrichtungen pse_044.014 umgreifen diese Bezeichnungen heute pse_044.015 deutlich (aber teilweise schon früher) manche literarische pse_044.016 Produkte, deren dichterischer Wert zumindest zweifelhaft ist. pse_044.017 Sie segeln unter einer Marke, die ursprünglich für Dichtung pse_044.018 geprägt war. Als ihre drei wesentlichen Formen erscheinen: pse_044.019 die Unterhaltungsliteratur, der Kitsch, der Schund.
pse_044.020 Die Unterhaltungsliteratur bedient sich aller Formen, am pse_044.021 seltensten der lyrischen, am häufigsten der erzählenden. Vom pse_044.022 Standpunkt des Lesers aus ist es das Schrifttum, das ihn unterhält, pse_044.023 zu dem er greift, um sich zu entspannen, also leicht Ansprechbares, pse_044.024 Gefälliges oder auch Spannendes in einem dem pse_044.025 Berufsalltag abgewandten Sinn (Kriminalromane). Das sagt pse_044.026 noch nichts über den dichterischen Wert, man denke an pse_044.027 Erzählungen Hebels, Gotthelfs, Roseggers. Und diese Unterhaltungsliteratur pse_044.028 hat etwas sehr Wesentliches mit Dichtung pse_044.029 gemeinsam: sie schafft eine eigene Welt durch die Sprache, pse_044.030 man wird durch sie nicht auf die Alltagswirklichkeit verwiesen, pse_044.031 oder, wie in den banalen Geschichtsromanen, man pse_044.032 formt sich die geschichtliche Wirklichkeit nach den Anweisungen pse_044.033 des Romans um, hält sie für die reale Wirklichkeit pse_044.034 und spürt nicht, daß man sich in einer durch den Autor in der pse_044.035 Sprache geschaffenen bewegt. Der Mangel an Tiefgang, die pse_044.036 Seichtigkeit scheint manchem schon der strikte Beweis zu pse_044.037 sein, daß es keine Dichtung ist. Aber erstens wollen wir die pse_044.038 leichte Muse, die erheitert und dadurch erhebt, nicht zu rasch
pse_044.001 Für unsere Zwecke unterscheiden wir zwei Gruppen. In der pse_044.002 ersten wird durch eine bestimmte Artbezeichnung im Untertitel pse_044.003 irgendwie ein Anspruch erweckt, als Dichtung zu gelten, pse_044.004 oder der Leser ist bis zu einem gewissen Grade berechtigt, pse_044.005 eine solche zu erwarten. Solche Titel sind: Roman, historicher pse_044.006 Roman, Novelle, Drama, Trauerspiel, Komödie, Lustspiel pse_044.007 usw. Von gewagteren wollen wir schweigen. Diese Bezeichnungen, pse_044.008 mit denen wir uns noch ausgiebig beschäftigen pse_044.009 müssen, spielen in der Dichtungslehre eine große Rolle. Man pse_044.010 hat mit ihnen ganz bestimmt Arten von Dichtungen bezeichnet pse_044.011 und tut es heute noch. Aber mit der Zunahme der Buchproduktion, pse_044.012 besonders mit der immer wachsenden Flut von pse_044.013 Romanen und mit bestimmten Entwicklungen der Geschmacksrichtungen pse_044.014 umgreifen diese Bezeichnungen heute pse_044.015 deutlich (aber teilweise schon früher) manche literarische pse_044.016 Produkte, deren dichterischer Wert zumindest zweifelhaft ist. pse_044.017 Sie segeln unter einer Marke, die ursprünglich für Dichtung pse_044.018 geprägt war. Als ihre drei wesentlichen Formen erscheinen: pse_044.019 die Unterhaltungsliteratur, der Kitsch, der Schund.
pse_044.020 Die Unterhaltungsliteratur bedient sich aller Formen, am pse_044.021 seltensten der lyrischen, am häufigsten der erzählenden. Vom pse_044.022 Standpunkt des Lesers aus ist es das Schrifttum, das ihn unterhält, pse_044.023 zu dem er greift, um sich zu entspannen, also leicht Ansprechbares, pse_044.024 Gefälliges oder auch Spannendes in einem dem pse_044.025 Berufsalltag abgewandten Sinn (Kriminalromane). Das sagt pse_044.026 noch nichts über den dichterischen Wert, man denke an pse_044.027 Erzählungen Hebels, Gotthelfs, Roseggers. Und diese Unterhaltungsliteratur pse_044.028 hat etwas sehr Wesentliches mit Dichtung pse_044.029 gemeinsam: sie schafft eine eigene Welt durch die Sprache, pse_044.030 man wird durch sie nicht auf die Alltagswirklichkeit verwiesen, pse_044.031 oder, wie in den banalen Geschichtsromanen, man pse_044.032 formt sich die geschichtliche Wirklichkeit nach den Anweisungen pse_044.033 des Romans um, hält sie für die reale Wirklichkeit pse_044.034 und spürt nicht, daß man sich in einer durch den Autor in der pse_044.035 Sprache geschaffenen bewegt. Der Mangel an Tiefgang, die pse_044.036 Seichtigkeit scheint manchem schon der strikte Beweis zu pse_044.037 sein, daß es keine Dichtung ist. Aber erstens wollen wir die pse_044.038 leichte Muse, die erheitert und dadurch erhebt, nicht zu rasch
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Roman, Novelle, Drama, Trauerspiel, Komödie, Lustspiel pse_044.007
usw. Von gewagteren wollen wir schweigen. Diese Bezeichnungen, pse_044.008
mit denen wir uns noch ausgiebig beschäftigen pse_044.009
müssen, spielen in der Dichtungslehre eine große Rolle. Man pse_044.010
hat mit ihnen ganz bestimmt Arten von Dichtungen bezeichnet pse_044.011
und tut es heute noch. Aber mit der Zunahme der Buchproduktion, pse_044.012
besonders mit der immer wachsenden Flut von pse_044.013
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Die Unterhaltungsliteratur bedient sich aller Formen, am pse_044.021
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man wird durch sie nicht auf die Alltagswirklichkeit verwiesen, pse_044.031
oder, wie in den banalen Geschichtsromanen, man pse_044.032
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des Romans um, hält sie für die reale Wirklichkeit pse_044.034
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/60>, abgerufen am 26.11.2024.
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