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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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zusammen. Je mehr sich aber die pse_043.002
Wissenschaften gemäß den Gegenständen, die sich wissenschaftlich pse_043.003
erforschen lassen, ausgliedern und entfalten, desto pse_043.004
strenger muß nach einem in sich geschlossenen Gegenstand pse_043.005
jeder Wissenschaft, also auch der Literaturwissenschaft, gefragt pse_043.006
werden. Und da ergibt sich für heute folgende Feststellung: pse_043.007
Alle Sprachwerke können in zwiefachem Sinn pse_043.008
Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung sein: 1. Ihrem pse_043.009
Inhalt entsprechend gehören sie in die einzelnen Fachwissenschaften: pse_043.010
die philosophischen Schriften des Aristoteles in die pse_043.011
Philosophie und Philosophiegeschichte, die Gesetzessammlungen pse_043.012
zur Rechtswissenschaft, mathematische Werke zur pse_043.013
Mathematik usw. 2. Als Sprachgebilde können sie Grundlagen pse_043.014
für sprachwissenschaftliche Untersuchungen bilden, pse_043.015
sowohl geschichtlicher als grammatischer Richtung. Ganz pse_043.016
anders aber steht es mit Sprachkunstwerken. Gewiß kann ein pse_043.017
"Werther" wichtig für die Geschichte des deutschen Wortschatzes pse_043.018
und Satzbaus sein, er ist eine wertvolle Quelle für die pse_043.019
Sozial- und Geistesgeschichte des späten 18. Jahrhunderts. pse_043.020
Aber damit ist sein Wesen und seine Bedeutung noch lange pse_043.021
nicht erschöpft, weil wir dieses Werk mit diesen zwei Gesichtspunkten pse_043.022
überhaupt noch gar nicht in seinem Wesen, pse_043.023
eben als Sprachkunstwerk betrachtet haben. Und so wird heute pse_043.024
mit Recht Literaturgeschichte, überhaupt Literaturwissenschaft pse_043.025
ausschließlich auf Sprachkunstwerke bezogen, vielfach noch pse_043.026
enger sogar auf Dichtung. Nur für größere geistige Zusammenhänge, pse_043.027
in die wir Dichtungen hineinstellen, ziehen wir pse_043.028
auch andere, geistig bedeutende Schriftwerke heran.

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Endlich sind noch einige Randerscheinungen zu beleuchten, pse_043.030
gerade weil sie heute für das allgemeine Lesepublikum wichtig pse_043.031
sind. Auch hier sind klare Grenzen nicht zu ziehen, denn auch pse_043.032
hier gibt es die Zone der unmerklichen Übergänge. Um diese pse_043.033
literarischen Randerscheinungen also beurteilen zu können, pse_043.034
und das heißt für uns, auf reine Dichtung auszurichten, pse_043.035
müssen wir immer vom Wesen des Sprachkunstwerkes als pse_043.036
eines ästhetischen Gebildes aus den Kräften der Sprache und pse_043.037
von der Dichtung als der reinsten und höchsten Form der pse_043.038
Sprachkunstwerke ausgehen.

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»Werther« wichtig für die Geschichte des deutschen Wortschatzes pse_043.018
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überhaupt noch gar nicht in seinem Wesen, pse_043.023
eben als Sprachkunstwerk betrachtet haben. Und so wird heute pse_043.024
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ausschließlich auf Sprachkunstwerke bezogen, vielfach noch pse_043.026
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auch andere, geistig bedeutende Schriftwerke heran.

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Endlich sind noch einige Randerscheinungen zu beleuchten, pse_043.030
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müssen wir immer vom Wesen des Sprachkunstwerkes als pse_043.036
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[43/0059] pse_043.001 zusammen. Je mehr sich aber die pse_043.002 Wissenschaften gemäß den Gegenständen, die sich wissenschaftlich pse_043.003 erforschen lassen, ausgliedern und entfalten, desto pse_043.004 strenger muß nach einem in sich geschlossenen Gegenstand pse_043.005 jeder Wissenschaft, also auch der Literaturwissenschaft, gefragt pse_043.006 werden. Und da ergibt sich für heute folgende Feststellung: pse_043.007 Alle Sprachwerke können in zwiefachem Sinn pse_043.008 Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung sein: 1. Ihrem pse_043.009 Inhalt entsprechend gehören sie in die einzelnen Fachwissenschaften: pse_043.010 die philosophischen Schriften des Aristoteles in die pse_043.011 Philosophie und Philosophiegeschichte, die Gesetzessammlungen pse_043.012 zur Rechtswissenschaft, mathematische Werke zur pse_043.013 Mathematik usw. 2. Als Sprachgebilde können sie Grundlagen pse_043.014 für sprachwissenschaftliche Untersuchungen bilden, pse_043.015 sowohl geschichtlicher als grammatischer Richtung. Ganz pse_043.016 anders aber steht es mit Sprachkunstwerken. Gewiß kann ein pse_043.017 »Werther« wichtig für die Geschichte des deutschen Wortschatzes pse_043.018 und Satzbaus sein, er ist eine wertvolle Quelle für die pse_043.019 Sozial- und Geistesgeschichte des späten 18. Jahrhunderts. pse_043.020 Aber damit ist sein Wesen und seine Bedeutung noch lange pse_043.021 nicht erschöpft, weil wir dieses Werk mit diesen zwei Gesichtspunkten pse_043.022 überhaupt noch gar nicht in seinem Wesen, pse_043.023 eben als Sprachkunstwerk betrachtet haben. Und so wird heute pse_043.024 mit Recht Literaturgeschichte, überhaupt Literaturwissenschaft pse_043.025 ausschließlich auf Sprachkunstwerke bezogen, vielfach noch pse_043.026 enger sogar auf Dichtung. Nur für größere geistige Zusammenhänge, pse_043.027 in die wir Dichtungen hineinstellen, ziehen wir pse_043.028 auch andere, geistig bedeutende Schriftwerke heran. pse_043.029 Endlich sind noch einige Randerscheinungen zu beleuchten, pse_043.030 gerade weil sie heute für das allgemeine Lesepublikum wichtig pse_043.031 sind. Auch hier sind klare Grenzen nicht zu ziehen, denn auch pse_043.032 hier gibt es die Zone der unmerklichen Übergänge. Um diese pse_043.033 literarischen Randerscheinungen also beurteilen zu können, pse_043.034 und das heißt für uns, auf reine Dichtung auszurichten, pse_043.035 müssen wir immer vom Wesen des Sprachkunstwerkes als pse_043.036 eines ästhetischen Gebildes aus den Kräften der Sprache und pse_043.037 von der Dichtung als der reinsten und höchsten Form der pse_043.038 Sprachkunstwerke ausgehen.

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/59>, abgerufen am 26.11.2024.