pse_609.001 vom Mitspieler zum Zuschauer. Das ist auch der geschichtliche pse_609.002 Weg. Diesem Verhältnis liegt ein tieferes zugrunde: pse_609.003 Die dichterische Wirklichkeit wird auf der Bühne durch eine pse_609.004 greifbare Realität anschaulich gemacht, so daß zwei Wirklichkeitssphären pse_609.005 einander gegenübertreten, die Welt der pse_609.006 Bühne und der Lebensraum des Zuschauers. Daraus ergeben pse_609.007 sich folgende grundsätzliche Formen: das Spiel im Zuschauerkreis, pse_609.008 das Spiel außerhalb des Zuschauerkreises vor festem pse_609.009 Hintergrund, das Spiel vor beweglichem Hintergrund im pse_609.010 Zeichen der Verwandlung. Auf diese Formen gehen die pse_609.011 geschichtlichen zurück. In der Antike ist das Spiel an einen sakralen pse_609.012 weiten Raum gebunden, der Fülle, Geschlossenheit und pse_609.013 Feierlichkeit ermöglicht. Die Form der Badezellenbühne des pse_609.014 späten Mittelalters und des Humanismus hängt noch mit pse_609.015 der Art der mittelalterlichen Kirchen- und Bürgerspiele zusammen, pse_609.016 auf einem festen Raum durch Unterteilung und pse_609.017 Einzelstücke alle möglichen Räume des Geschehens zusammenzufassen. pse_609.018 Die sogenannte Shakespearebühne kennt drei pse_609.019 Flächen: eine Vorderbühne, eine Hinterbühne, die etwas pse_609.020 höher liegt, und eine Oberbühne. Sie gibt dem Schauspieler pse_609.021 volle Freiheit, er formt den der Handlung nötigen Raum um pse_609.022 sich herum durch sein Spiel. Die moderne Guckkastenbühne pse_609.023 engt den Raum ein und bindet den Spieler an einen Ort. Auf pse_609.024 diesen historisch einander folgenden Bühnenformen vollzieht pse_609.025 sich das dauernde Ringen zwischen den beiden Grundsätzen: pse_609.026 Verbindung oder Trennung von Bühnen- und Zuschauerwelt. pse_609.027 Die geschichtliche Ausformung dieses Ringens pse_609.028 ist Stoff der Theatergeschichte. Während bis in den Barock pse_609.029 die Einheit beider im Hintergrund immer noch gefühlt und pse_609.030 gesucht wurde, setzt hier und dann entschieden im 18. Jahrhundert pse_609.031 die scharfe Trennung ein. Heute beobachten wir pse_609.032 mannigfache Versuche der Annäherung.
pse_609.033 Die dichterische Wurzel der Schauspielkunst ist die Darstellung pse_609.034 in der Transfiguration. In der kultischen Feier übernehmen pse_609.035 die Darstellenden eine Rolle, sie spielen sie nicht, pse_609.036 sie sind im Augenblick die Dargestellten selbst. Die Transfiguration pse_609.037 zeigt sich im feierlichen Schreiten und in der Maske. pse_609.038 Zwei Grundformen der Darstellungsart entwickeln sich im
pse_609.001 vom Mitspieler zum Zuschauer. Das ist auch der geschichtliche pse_609.002 Weg. Diesem Verhältnis liegt ein tieferes zugrunde: pse_609.003 Die dichterische Wirklichkeit wird auf der Bühne durch eine pse_609.004 greifbare Realität anschaulich gemacht, so daß zwei Wirklichkeitssphären pse_609.005 einander gegenübertreten, die Welt der pse_609.006 Bühne und der Lebensraum des Zuschauers. Daraus ergeben pse_609.007 sich folgende grundsätzliche Formen: das Spiel im Zuschauerkreis, pse_609.008 das Spiel außerhalb des Zuschauerkreises vor festem pse_609.009 Hintergrund, das Spiel vor beweglichem Hintergrund im pse_609.010 Zeichen der Verwandlung. Auf diese Formen gehen die pse_609.011 geschichtlichen zurück. In der Antike ist das Spiel an einen sakralen pse_609.012 weiten Raum gebunden, der Fülle, Geschlossenheit und pse_609.013 Feierlichkeit ermöglicht. Die Form der Badezellenbühne des pse_609.014 späten Mittelalters und des Humanismus hängt noch mit pse_609.015 der Art der mittelalterlichen Kirchen- und Bürgerspiele zusammen, pse_609.016 auf einem festen Raum durch Unterteilung und pse_609.017 Einzelstücke alle möglichen Räume des Geschehens zusammenzufassen. pse_609.018 Die sogenannte Shakespearebühne kennt drei pse_609.019 Flächen: eine Vorderbühne, eine Hinterbühne, die etwas pse_609.020 höher liegt, und eine Oberbühne. Sie gibt dem Schauspieler pse_609.021 volle Freiheit, er formt den der Handlung nötigen Raum um pse_609.022 sich herum durch sein Spiel. Die moderne Guckkastenbühne pse_609.023 engt den Raum ein und bindet den Spieler an einen Ort. Auf pse_609.024 diesen historisch einander folgenden Bühnenformen vollzieht pse_609.025 sich das dauernde Ringen zwischen den beiden Grundsätzen: pse_609.026 Verbindung oder Trennung von Bühnen- und Zuschauerwelt. pse_609.027 Die geschichtliche Ausformung dieses Ringens pse_609.028 ist Stoff der Theatergeschichte. Während bis in den Barock pse_609.029 die Einheit beider im Hintergrund immer noch gefühlt und pse_609.030 gesucht wurde, setzt hier und dann entschieden im 18. Jahrhundert pse_609.031 die scharfe Trennung ein. Heute beobachten wir pse_609.032 mannigfache Versuche der Annäherung.
pse_609.033 Die dichterische Wurzel der Schauspielkunst ist die Darstellung pse_609.034 in der Transfiguration. In der kultischen Feier übernehmen pse_609.035 die Darstellenden eine Rolle, sie spielen sie nicht, pse_609.036 sie sind im Augenblick die Dargestellten selbst. Die Transfiguration pse_609.037 zeigt sich im feierlichen Schreiten und in der Maske. pse_609.038 Zwei Grundformen der Darstellungsart entwickeln sich im
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Die dichterische Wirklichkeit wird auf der Bühne durch eine pse_609.004
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das Spiel außerhalb des Zuschauerkreises vor festem pse_609.009
Hintergrund, das Spiel vor beweglichem Hintergrund im pse_609.010
Zeichen der Verwandlung. Auf diese Formen gehen die pse_609.011
geschichtlichen zurück. In der Antike ist das Spiel an einen sakralen pse_609.012
weiten Raum gebunden, der Fülle, Geschlossenheit und pse_609.013
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Die sogenannte Shakespearebühne kennt drei pse_609.019
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gesucht wurde, setzt hier und dann entschieden im 18. Jahrhundert pse_609.031
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 609. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/625>, abgerufen am 22.11.2024.
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