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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Lauf der Zeit: die Form der Feierlichkeit und Enthebung über pse_610.002
den Alltag und die der realistischen Herausarbeitung von pse_610.003
Einzelheiten. Heute zeigt sich eine Richtung nach Zeichenhaftigkeit, pse_610.004
zu einer Kunst der Andeutungen, gleich weit entfernt pse_610.005
von Pathetik und von Naturalismus. Auch im Verhältnis pse_610.006
zum Publikum gibt es verschiedene Spielarten, die pse_610.007
sich auf folgende Grundformen zurückführen lassen: der pse_610.008
Schauspieler steht im Publikum und agiert für es; er steht pse_610.009
vor dem Publikum und sucht das Publikum ins Geschehen pse_610.010
hineinzureißen; der Schauspieler löst sich ganz vom Publikum pse_610.011
und spielt gleichsam ohne Rücksicht auf dieses, wir stehen pse_610.012
hier also vor der schärfsten Trennung der beiden Wirklichkeitssphären, pse_610.013
genau wie in der Guckkastenbühne. Auch hier pse_610.014
kann man beobachten, daß man heute von dieser radikalen pse_610.015
Trennung wieder wegzukommen sucht.

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Der Spielleiter steht zwischen Dichtung und Theater. Nur pse_610.017
selten ist der Dichter auch wirklich großer Spielleiter: Shakespeare, pse_610.018
Schiller, Goethe, Wagner, Raimund, Nestroy. Vom pse_610.019
Standpunkt der Dichtung aus hat der Spielleiter die Möglichkeiten pse_610.020
der Dichtung auf der Bühne voll zu entfalten. Er pse_610.021
kann dabei wortwörtlicher Ausleger sein, aber auch den pse_610.022
Dichter nach dessen Richtlinien in bühnentechnischer Hinsicht pse_610.023
verbessern. Freilich kommt es oft vor, daß der Spielleiter pse_610.024
seine eignen Wege geht und ihm die Dichtung dabei pse_610.025
Mittel zum Zweck wird. Vom Standpunkt der Dichtung pse_610.026
aus ist das abzulehnen.

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Hier ist nun auf eine Form der Bühnendarstellung hinzuweisen, pse_610.028
die seit einigen Jahrzehnten immer mehr von sich pse_610.029
reden macht, auf das sogenannte epische Theater. Vor allem pse_610.030
durch die theoretischen Darlegungen und durch die Stücke pse_610.031
von Bert Brecht ist dieser Begriff in die Dramaturgie eingedrungen. pse_610.032
Es handelt sich um teilweise sehr weit reichende pse_610.033
Änderungen der bis dahin üblichen Art der Bühnendarstellung. pse_610.034
Zunächst lassen sich folgende Kennzeichen angeben. pse_610.035
Der Schauspieler hat in solcher Darstellung nicht nur zu pse_610.036
spielen und zu singen, also in unserem Sinne darzustellen, pse_610.037
sondern auch zu zeigen, was er darstellt. Dazu gehört auch pse_610.038
das Ansagen. So scheint es sich auf den ersten Blick um eine

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Lauf der Zeit: die Form der Feierlichkeit und Enthebung über pse_610.002
den Alltag und die der realistischen Herausarbeitung von pse_610.003
Einzelheiten. Heute zeigt sich eine Richtung nach Zeichenhaftigkeit, pse_610.004
zu einer Kunst der Andeutungen, gleich weit entfernt pse_610.005
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zum Publikum gibt es verschiedene Spielarten, die pse_610.007
sich auf folgende Grundformen zurückführen lassen: der pse_610.008
Schauspieler steht im Publikum und agiert für es; er steht pse_610.009
vor dem Publikum und sucht das Publikum ins Geschehen pse_610.010
hineinzureißen; der Schauspieler löst sich ganz vom Publikum pse_610.011
und spielt gleichsam ohne Rücksicht auf dieses, wir stehen pse_610.012
hier also vor der schärfsten Trennung der beiden Wirklichkeitssphären, pse_610.013
genau wie in der Guckkastenbühne. Auch hier pse_610.014
kann man beobachten, daß man heute von dieser radikalen pse_610.015
Trennung wieder wegzukommen sucht.

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Der Spielleiter steht zwischen Dichtung und Theater. Nur pse_610.017
selten ist der Dichter auch wirklich großer Spielleiter: Shakespeare, pse_610.018
Schiller, Goethe, Wagner, Raimund, Nestroy. Vom pse_610.019
Standpunkt der Dichtung aus hat der Spielleiter die Möglichkeiten pse_610.020
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kann dabei wortwörtlicher Ausleger sein, aber auch den pse_610.022
Dichter nach dessen Richtlinien in bühnentechnischer Hinsicht pse_610.023
verbessern. Freilich kommt es oft vor, daß der Spielleiter pse_610.024
seine eignen Wege geht und ihm die Dichtung dabei pse_610.025
Mittel zum Zweck wird. Vom Standpunkt der Dichtung pse_610.026
aus ist das abzulehnen.

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reden macht, auf das sogenannte epische Theater. Vor allem pse_610.030
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von Bert Brecht ist dieser Begriff in die Dramaturgie eingedrungen. pse_610.032
Es handelt sich um teilweise sehr weit reichende pse_610.033
Änderungen der bis dahin üblichen Art der Bühnendarstellung. pse_610.034
Zunächst lassen sich folgende Kennzeichen angeben. pse_610.035
Der Schauspieler hat in solcher Darstellung nicht nur zu pse_610.036
spielen und zu singen, also in unserem Sinne darzustellen, pse_610.037
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[610/0626] pse_610.001 Lauf der Zeit: die Form der Feierlichkeit und Enthebung über pse_610.002 den Alltag und die der realistischen Herausarbeitung von pse_610.003 Einzelheiten. Heute zeigt sich eine Richtung nach Zeichenhaftigkeit, pse_610.004 zu einer Kunst der Andeutungen, gleich weit entfernt pse_610.005 von Pathetik und von Naturalismus. Auch im Verhältnis pse_610.006 zum Publikum gibt es verschiedene Spielarten, die pse_610.007 sich auf folgende Grundformen zurückführen lassen: der pse_610.008 Schauspieler steht im Publikum und agiert für es; er steht pse_610.009 vor dem Publikum und sucht das Publikum ins Geschehen pse_610.010 hineinzureißen; der Schauspieler löst sich ganz vom Publikum pse_610.011 und spielt gleichsam ohne Rücksicht auf dieses, wir stehen pse_610.012 hier also vor der schärfsten Trennung der beiden Wirklichkeitssphären, pse_610.013 genau wie in der Guckkastenbühne. Auch hier pse_610.014 kann man beobachten, daß man heute von dieser radikalen pse_610.015 Trennung wieder wegzukommen sucht. pse_610.016 Der Spielleiter steht zwischen Dichtung und Theater. Nur pse_610.017 selten ist der Dichter auch wirklich großer Spielleiter: Shakespeare, pse_610.018 Schiller, Goethe, Wagner, Raimund, Nestroy. Vom pse_610.019 Standpunkt der Dichtung aus hat der Spielleiter die Möglichkeiten pse_610.020 der Dichtung auf der Bühne voll zu entfalten. Er pse_610.021 kann dabei wortwörtlicher Ausleger sein, aber auch den pse_610.022 Dichter nach dessen Richtlinien in bühnentechnischer Hinsicht pse_610.023 verbessern. Freilich kommt es oft vor, daß der Spielleiter pse_610.024 seine eignen Wege geht und ihm die Dichtung dabei pse_610.025 Mittel zum Zweck wird. Vom Standpunkt der Dichtung pse_610.026 aus ist das abzulehnen. pse_610.027 Hier ist nun auf eine Form der Bühnendarstellung hinzuweisen, pse_610.028 die seit einigen Jahrzehnten immer mehr von sich pse_610.029 reden macht, auf das sogenannte epische Theater. Vor allem pse_610.030 durch die theoretischen Darlegungen und durch die Stücke pse_610.031 von Bert Brecht ist dieser Begriff in die Dramaturgie eingedrungen. pse_610.032 Es handelt sich um teilweise sehr weit reichende pse_610.033 Änderungen der bis dahin üblichen Art der Bühnendarstellung. pse_610.034 Zunächst lassen sich folgende Kennzeichen angeben. pse_610.035 Der Schauspieler hat in solcher Darstellung nicht nur zu pse_610.036 spielen und zu singen, also in unserem Sinne darzustellen, pse_610.037 sondern auch zu zeigen, was er darstellt. Dazu gehört auch pse_610.038 das Ansagen. So scheint es sich auf den ersten Blick um eine

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 610. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/626>, abgerufen am 22.11.2024.