pse_626.001 in der künstlerischen Art sehr verschieden. Aber eines pse_626.002 bindet sie: der Mensch erscheint in allen als beinahe wehrloses pse_626.003 Objekt eines welthaften Daseins, einer großen Macht, die alle pse_626.004 Welt beherrscht. Man kann das als Schicksal bezeichnen. pse_626.005 Aber je nach Zeitlage und Weltbild gliedert es sich in Spielarten pse_626.006 auf: die große, zu verehrende Macht bei den alten pse_626.007 Griechen, die Vorsehung, die dem Christen in seiner Erkenntnisbeschränkung pse_626.008 als rätselhaft erscheinen muß, die er eben pse_626.009 gläubig hinzunehmen hat, die waltende und rächende Geschichtsmacht pse_626.010 (Schillers Nemesis) und endlich das böse Verhängnis. pse_626.011 Als solches erscheint das Schicksal in den romantischen pse_626.012 Schicksalsdramen seit Tiecks Frühwerken ("Abschied" pse_626.013 und "Berneck") und besonders in Z. Werners "Der 24. Februar" pse_626.014 und den erfolgreichen Stücken seiner Nachahmer. Sie arbeiten pse_626.015 mit den Motiven der Blutsünde, der Weissagung eines pse_626.016 Unheils, des Familienfluchs, des Verwandtenmordes und der pse_626.017 Heimkehr. Man findet solche und ähnliche Schicksalsgestaltung pse_626.018 schon früher, in ersten Andeutungen bei Lillo und den pse_626.019 Anfängen der bürgerlichen Tragödie und weit hinein zu den pse_626.020 realistischen, naturalistischen und sogenannten neuromantischen pse_626.021 Dramen des 19. und 20. Jahrhunderts. Das Gemeinsame pse_626.022 ist die Tatsache, daß hier das Schicksal zum Unmenschlichen, pse_626.023 ja Außermenschlichen wird, dem der Mensch rettungslos pse_626.024 ausgeliefert ist. Es gewinnt greifbare Gestalt in Dingen, pse_626.025 in den eben erwähnten Motiven, in der Form des bösen pse_626.026 Zufalls. Solche Wandlung der Schicksalsvorstellung hängt pse_626.027 mit der Entwicklung des Weltbildes zusammen. Man erkennt, pse_626.028 wie so umfassende Begriffe in ihrer geschichtlichen pse_626.029 Auseinanderfaltung wieder die künstlerische Gestalt bestimmen.
pse_626.030
pse_626.031 Da seit der Entwicklung des Dramas vom Humanismus her pse_626.032 und der Ausformung der Tragödie im Renaissance- und Barockzeitalter pse_626.033 die Tragödie stark sozial bestimmt war, nämlich pse_626.034 so, daß in ihr nur Personen hohen Standes vorkommen pse_626.035 durften, hat sich mit dem geistigen Hochkommen des Bürgertums pse_626.036 eine Dramenform ausgebildet, wo auch aus bürgerlicher pse_626.037 Welt tragische Erschütterungen aufsteigen. Da dieser Wandel pse_626.038 in der sozialen Gestaltung der Tragödie sehr auffällig war,
pse_626.001 in der künstlerischen Art sehr verschieden. Aber eines pse_626.002 bindet sie: der Mensch erscheint in allen als beinahe wehrloses pse_626.003 Objekt eines welthaften Daseins, einer großen Macht, die alle pse_626.004 Welt beherrscht. Man kann das als Schicksal bezeichnen. pse_626.005 Aber je nach Zeitlage und Weltbild gliedert es sich in Spielarten pse_626.006 auf: die große, zu verehrende Macht bei den alten pse_626.007 Griechen, die Vorsehung, die dem Christen in seiner Erkenntnisbeschränkung pse_626.008 als rätselhaft erscheinen muß, die er eben pse_626.009 gläubig hinzunehmen hat, die waltende und rächende Geschichtsmacht pse_626.010 (Schillers Nemesis) und endlich das böse Verhängnis. pse_626.011 Als solches erscheint das Schicksal in den romantischen pse_626.012 Schicksalsdramen seit Tiecks Frühwerken (»Abschied« pse_626.013 und »Berneck«) und besonders in Z. Werners »Der 24. Februar« pse_626.014 und den erfolgreichen Stücken seiner Nachahmer. Sie arbeiten pse_626.015 mit den Motiven der Blutsünde, der Weissagung eines pse_626.016 Unheils, des Familienfluchs, des Verwandtenmordes und der pse_626.017 Heimkehr. Man findet solche und ähnliche Schicksalsgestaltung pse_626.018 schon früher, in ersten Andeutungen bei Lillo und den pse_626.019 Anfängen der bürgerlichen Tragödie und weit hinein zu den pse_626.020 realistischen, naturalistischen und sogenannten neuromantischen pse_626.021 Dramen des 19. und 20. Jahrhunderts. Das Gemeinsame pse_626.022 ist die Tatsache, daß hier das Schicksal zum Unmenschlichen, pse_626.023 ja Außermenschlichen wird, dem der Mensch rettungslos pse_626.024 ausgeliefert ist. Es gewinnt greifbare Gestalt in Dingen, pse_626.025 in den eben erwähnten Motiven, in der Form des bösen pse_626.026 Zufalls. Solche Wandlung der Schicksalsvorstellung hängt pse_626.027 mit der Entwicklung des Weltbildes zusammen. Man erkennt, pse_626.028 wie so umfassende Begriffe in ihrer geschichtlichen pse_626.029 Auseinanderfaltung wieder die künstlerische Gestalt bestimmen.
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pse_626.031 Da seit der Entwicklung des Dramas vom Humanismus her pse_626.032 und der Ausformung der Tragödie im Renaissance- und Barockzeitalter pse_626.033 die Tragödie stark sozial bestimmt war, nämlich pse_626.034 so, daß in ihr nur Personen hohen Standes vorkommen pse_626.035 durften, hat sich mit dem geistigen Hochkommen des Bürgertums pse_626.036 eine Dramenform ausgebildet, wo auch aus bürgerlicher pse_626.037 Welt tragische Erschütterungen aufsteigen. Da dieser Wandel pse_626.038 in der sozialen Gestaltung der Tragödie sehr auffällig war,
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in der künstlerischen Art sehr verschieden. Aber eines pse_626.002
bindet sie: der Mensch erscheint in allen als beinahe wehrloses pse_626.003
Objekt eines welthaften Daseins, einer großen Macht, die alle pse_626.004
Welt beherrscht. Man kann das als Schicksal bezeichnen. pse_626.005
Aber je nach Zeitlage und Weltbild gliedert es sich in Spielarten pse_626.006
auf: die große, zu verehrende Macht bei den alten pse_626.007
Griechen, die Vorsehung, die dem Christen in seiner Erkenntnisbeschränkung pse_626.008
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gläubig hinzunehmen hat, die waltende und rächende Geschichtsmacht pse_626.010
(Schillers Nemesis) und endlich das böse Verhängnis. pse_626.011
Als solches erscheint das Schicksal in den romantischen pse_626.012
Schicksalsdramen seit Tiecks Frühwerken (»Abschied« pse_626.013
und »Berneck«) und besonders in Z. Werners »Der 24. Februar« pse_626.014
und den erfolgreichen Stücken seiner Nachahmer. Sie arbeiten pse_626.015
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ist die Tatsache, daß hier das Schicksal zum Unmenschlichen, pse_626.023
ja Außermenschlichen wird, dem der Mensch rettungslos pse_626.024
ausgeliefert ist. Es gewinnt greifbare Gestalt in Dingen, pse_626.025
in den eben erwähnten Motiven, in der Form des bösen pse_626.026
Zufalls. Solche Wandlung der Schicksalsvorstellung hängt pse_626.027
mit der Entwicklung des Weltbildes zusammen. Man erkennt, pse_626.028
wie so umfassende Begriffe in ihrer geschichtlichen pse_626.029
Auseinanderfaltung wieder die künstlerische Gestalt bestimmen.
pse_626.030
pse_626.031
Da seit der Entwicklung des Dramas vom Humanismus her pse_626.032
und der Ausformung der Tragödie im Renaissance- und Barockzeitalter pse_626.033
die Tragödie stark sozial bestimmt war, nämlich pse_626.034
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eine Dramenform ausgebildet, wo auch aus bürgerlicher pse_626.037
Welt tragische Erschütterungen aufsteigen. Da dieser Wandel pse_626.038
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 626. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/642>, abgerufen am 22.11.2024.
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