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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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zurück, das den Menschen betrifft. Aber nur von Unglück pse_634.002
zu reden, bleibt bedenklich. Denn nicht jedes Unglück ist pse_634.003
schon tragisch. Nur wenn daraus eine Erschütterung erfolgt, pse_634.004
wenn man die Daseinsgrundlagen vernichtet glaubt, kann von pse_634.005
Tragik gesprochen werden. Man kann nach der Art der Ereignisse, pse_634.006
die ein solches tragisches Unglück hervorrufen, auch pse_634.007
verschiedene Arten von Tragödien unterscheiden. Sie können pse_634.008
im Zusammenstoß eines Menschen mit der Welt bestehen, pse_634.009
darin, daß in einem Menschen zwei Weltprinzipien zum pse_634.010
Kampf antreten, darin, daß ein Mensch mit seiner inneren pse_634.011
Zwiespältigkeit nicht fertig wird, darin, daß einen Menschen pse_634.012
ein ungeheures Schicksal überfällt. Geschichtlich ist der pse_634.013
Wandel, der sich im 18. Jahrhundert vollzogen hat, auch pse_634.014
für die Art der Tragödie wichtig. Vorher konnten nur hochgestellte pse_634.015
Personen Träger tragischer Geschehnisse sein, im pse_634.016
18. Jahrhundert beginnt die bürgerliche Tragödie. Seither pse_634.017
gibt es keine sozialen Normen mehr für die Tragödie: neben pse_634.018
"Herodes und Mariamne" steht "Maria Magdalena", neben pse_634.019
den "Webern", dem "Fuhrmann Henschel" und "Hanneles pse_634.020
Himmelfahrt" die "Atridentetralogie" G. Hauptmanns. Aber pse_634.021
man darf diese Gewohnheit früherer Jahrhunderte nicht bloß pse_634.022
gesellschaftsgeschichtlich sehen. Man hat mit Recht von einer pse_634.023
tragischen Fallhöhe gesprochen. Das Schicksal eines "Ödipus", pse_634.024
eines "Tasso", eines "Wallenstein" erschüttert uns in der Dichtung pse_634.025
meist mehr als das eines Fuhrmanns, eines armen Dorfmädels, pse_634.026
einiger Fabrikarbeiter. Nicht deshalb, weil nur hohe pse_634.027
Menschen unseres Mitgefühls wert wären oder nur in diesen pse_634.028
höheren Bereichen die Fragwürdigkeit des Daseins vorhanden pse_634.029
wäre. Aber es ist eine künstlerische Tatsache, daß tragische pse_634.030
Erschütterungen leichter wirksam zu gestalten sind, pse_634.031
wenn ein hochgestellter, heldischer oder überhaupt innerlich pse_634.032
bedeutender Mensch scheitert: der Fall von beachtlicher pse_634.033
menschlicher Höhe herab in den Untergang reißt mehr mit, pse_634.034
wühlt uns tiefer auf als das endgültige Versinken eines an pse_634.035
sich schon in den Tiefen dahinvegetierenden armen Teufels. pse_634.036
Das hat nichts mit sozialem Mitgefühl, sondern nur mit pse_634.037
ästhetischer Erschütterung zu tun. Wenn es dem Dichter pse_634.038
gelingt, auch im Schicksal eines kleinen Menschen uns die

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zurück, das den Menschen betrifft. Aber nur von Unglück pse_634.002
zu reden, bleibt bedenklich. Denn nicht jedes Unglück ist pse_634.003
schon tragisch. Nur wenn daraus eine Erschütterung erfolgt, pse_634.004
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Zwiespältigkeit nicht fertig wird, darin, daß einen Menschen pse_634.012
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 634. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/650>, abgerufen am 22.11.2024.