pse_636.001 Ausdruck Katharsis. Um ihn und um die Frage, ob die griechischen pse_636.002 Ausdrücke >eleos< und >phobos< mit Mitleid und pse_636.003 Furcht treffend übersetzt sind, geht seit den ersten Aristoteleskommentaren pse_636.004 der Renaissancezeit ein dauernder Streit. pse_636.005 Vielleicht wird wirklich zuviel in die Worte hineingelegt, pse_636.006 aber das Ringen um ihre Deutung klärt uns doch über Grundverhältnisse pse_636.007 der Tragödie auf.
pse_636.008 Wir fragen zunächst nach dem Grund der Wirkung einer pse_636.009 Tragödie. Gewiß kann oft schon der Stoff als solcher erschütternde pse_636.010 Wirkungen auslösen. Aber schon da muß beachtet pse_636.011 werden, daß die geringste Gestaltung durch den Dichter pse_636.012 schon über das Stoffliche hinausführt: Auswahl der Teile, pse_636.013 Verteilung der Gewichtigkeit, Ausführlichkeit oder Knappheit. pse_636.014 Rein stoffliche Wirkung ist undichterisch; sie bleibt pse_636.015 im Realen, Außerdichterischen hängen, hat nichts mit Kunst pse_636.016 zu tun. Mit Recht hat Schiller ängstlich stoffliche Wirkungen pse_636.017 immer zu vermeiden gesucht. Die entscheidenden Wirkungen pse_636.018 gehen von der Gestaltung aus. Und zwar im vollsten pse_636.019 Umfang des Gestaltens. Dazu gehört die Durchführung des pse_636.020 Vorgangs, seine Gliederung, der Aufbau der Spannung, die pse_636.021 Gewichtigkeit, die jedem Glied der Handlung zugemessen pse_636.022 wird, Art und Haltung der Personen, das Zusammenwirken pse_636.023 der Personen, endlich auch die sprachliche Gestaltung: die pse_636.024 sprachlichen Bilder in ihrem Bereich, ihrem Zusammenwirken, pse_636.025 ferner die dynamische Bewegtheit usw. Kurzum alle pse_636.026 Schichten, Glieder, die einzelnen Sichten, die Stilkräfte und pse_636.027 ihr Zusammenwirken, all das, was wir über die Gestaltungsmöglichkeiten pse_636.028 der Dichtung gesagt haben, wirkt mit an der pse_636.029 Erzeugung tragischer Wirkung. Welche Elemente jeweils pse_636.030 stärker und welche schwächer daran beteiligt sind, prägt die pse_636.031 Eigenart jeder Tragödie mit.
pse_636.032 Die Art der tragischen Wirkung im einzelnen ist zunächst pse_636.033 schon durch das berühmte Wortpaar des Aristoteles: Furcht pse_636.034 und Mitleid angedeutet. Vorauszusetzen ist zunächst der Begriff pse_636.035 hamartia, d. h. Fehler. Damit meint man keine spezifische pse_636.036 Schuld, kein Verbrechen, das sich klar umschreiben ließe pse_636.037 oder einem Menschen voll zugerechnet werden könnte, sondern pse_636.038 Mangel an tiefer Einsicht, wie wir es an Ödipus erkennen.
pse_636.001 Ausdruck Katharsis. Um ihn und um die Frage, ob die griechischen pse_636.002 Ausdrücke ›eleos‹ und ›phobos‹ mit Mitleid und pse_636.003 Furcht treffend übersetzt sind, geht seit den ersten Aristoteleskommentaren pse_636.004 der Renaissancezeit ein dauernder Streit. pse_636.005 Vielleicht wird wirklich zuviel in die Worte hineingelegt, pse_636.006 aber das Ringen um ihre Deutung klärt uns doch über Grundverhältnisse pse_636.007 der Tragödie auf.
pse_636.008 Wir fragen zunächst nach dem Grund der Wirkung einer pse_636.009 Tragödie. Gewiß kann oft schon der Stoff als solcher erschütternde pse_636.010 Wirkungen auslösen. Aber schon da muß beachtet pse_636.011 werden, daß die geringste Gestaltung durch den Dichter pse_636.012 schon über das Stoffliche hinausführt: Auswahl der Teile, pse_636.013 Verteilung der Gewichtigkeit, Ausführlichkeit oder Knappheit. pse_636.014 Rein stoffliche Wirkung ist undichterisch; sie bleibt pse_636.015 im Realen, Außerdichterischen hängen, hat nichts mit Kunst pse_636.016 zu tun. Mit Recht hat Schiller ängstlich stoffliche Wirkungen pse_636.017 immer zu vermeiden gesucht. Die entscheidenden Wirkungen pse_636.018 gehen von der Gestaltung aus. Und zwar im vollsten pse_636.019 Umfang des Gestaltens. Dazu gehört die Durchführung des pse_636.020 Vorgangs, seine Gliederung, der Aufbau der Spannung, die pse_636.021 Gewichtigkeit, die jedem Glied der Handlung zugemessen pse_636.022 wird, Art und Haltung der Personen, das Zusammenwirken pse_636.023 der Personen, endlich auch die sprachliche Gestaltung: die pse_636.024 sprachlichen Bilder in ihrem Bereich, ihrem Zusammenwirken, pse_636.025 ferner die dynamische Bewegtheit usw. Kurzum alle pse_636.026 Schichten, Glieder, die einzelnen Sichten, die Stilkräfte und pse_636.027 ihr Zusammenwirken, all das, was wir über die Gestaltungsmöglichkeiten pse_636.028 der Dichtung gesagt haben, wirkt mit an der pse_636.029 Erzeugung tragischer Wirkung. Welche Elemente jeweils pse_636.030 stärker und welche schwächer daran beteiligt sind, prägt die pse_636.031 Eigenart jeder Tragödie mit.
pse_636.032 Die Art der tragischen Wirkung im einzelnen ist zunächst pse_636.033 schon durch das berühmte Wortpaar des Aristoteles: Furcht pse_636.034 und Mitleid angedeutet. Vorauszusetzen ist zunächst der Begriff pse_636.035 hamartia, d. h. Fehler. Damit meint man keine spezifische pse_636.036 Schuld, kein Verbrechen, das sich klar umschreiben ließe pse_636.037 oder einem Menschen voll zugerechnet werden könnte, sondern pse_636.038 Mangel an tiefer Einsicht, wie wir es an Ödipus erkennen.
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Furcht treffend übersetzt sind, geht seit den ersten Aristoteleskommentaren pse_636.004
der Renaissancezeit ein dauernder Streit. pse_636.005
Vielleicht wird wirklich zuviel in die Worte hineingelegt, pse_636.006
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der Tragödie auf.
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Wir fragen zunächst nach dem Grund der Wirkung einer pse_636.009
Tragödie. Gewiß kann oft schon der Stoff als solcher erschütternde pse_636.010
Wirkungen auslösen. Aber schon da muß beachtet pse_636.011
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Rein stoffliche Wirkung ist undichterisch; sie bleibt pse_636.015
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gehen von der Gestaltung aus. Und zwar im vollsten pse_636.019
Umfang des Gestaltens. Dazu gehört die Durchführung des pse_636.020
Vorgangs, seine Gliederung, der Aufbau der Spannung, die pse_636.021
Gewichtigkeit, die jedem Glied der Handlung zugemessen pse_636.022
wird, Art und Haltung der Personen, das Zusammenwirken pse_636.023
der Personen, endlich auch die sprachliche Gestaltung: die pse_636.024
sprachlichen Bilder in ihrem Bereich, ihrem Zusammenwirken, pse_636.025
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Erzeugung tragischer Wirkung. Welche Elemente jeweils pse_636.030
stärker und welche schwächer daran beteiligt sind, prägt die pse_636.031
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Die Art der tragischen Wirkung im einzelnen ist zunächst pse_636.033
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und Mitleid angedeutet. Vorauszusetzen ist zunächst der Begriff pse_636.035
hamartia, d. h. Fehler. Damit meint man keine spezifische pse_636.036
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Mangel an tiefer Einsicht, wie wir es an Ödipus erkennen.
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 636. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/652>, abgerufen am 22.11.2024.
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