pse_637.001 Der Mangel an Einsicht ist die Ursache für das Unglück, in pse_637.002 das ein Mensch in der Tragödie gerät. Und er führt uns zu den pse_637.003 Gefühlen, die man als Furcht und Mitleid bezeichnet. Aber pse_637.004 beide griechischen Worte sind im Lauf der Zeiten verschieden pse_637.005 übersetzt und damit gedeutet worden. Solche Übersetzung und pse_637.006 Deutung zeigt zugleich, worin man in der betreffenden Zeit pse_637.007 die tragische Wirkung sah. In der Barocktheorie hat man mehr pse_637.008 Gewicht auf die Furcht als auf das Mitleid gelegt. Zugleich pse_637.009 wurde dieses Wort >phobos< aber mit Schrecken wiedergegeben. pse_637.010 Der Schrecken über die Furchtbarkeiten, denen große pse_637.011 Menschen ausgesetzt sind, ist die Wirkung, die der Barockmensch pse_637.012 an der Tragödie erfährt. Dazu kommt noch die Bewunderung, pse_637.013 die man der Haltung der Helden im Unglück pse_637.014 zollt. Alles ist also auf eine starke Erhebung aus dem Alltag abgestellt. pse_637.015 In der Aufklärungszeit, besonders deutlich bei Lessing, pse_637.016 lehnt man den Schrecken ab, setzt dafür Furcht, betont aber pse_637.017 viel mehr das Mitleid. Auch die Furcht bezeichnet Lessing als pse_637.018 das auf uns selbst bezogene Mitleid. Damit wird die philanthropische pse_637.019 Einstellung dieser Zeit deutlich. Das rein menschliche pse_637.020 Mitfühlen mit einem unseresgleichen im Unglück tritt pse_637.021 an die Stelle erhabener Gefühle. Tragisches Mitleid ist nun pse_637.022 der höchste Grad der Anteilnahme des erschütterten Zuschauers. pse_637.023 Noch Schiller kommt von diesem Gefühl des Mitleids pse_637.024 in seiner Theorie und bei der Überlegung der Tragödienpläne pse_637.025 nie recht los. Neuerdings hat man nun zu zeigen pse_637.026 versucht, daß durch die ganze ethische Entwicklung aus dem pse_637.027 Geist des Christentums die Begriffe Furcht und Mitleid auf pse_637.028 sanftere und gleichsam mittlere Bereiche bezogen werden. pse_637.029 Diese Entwicklung wurde durch die philanthropischen Neigungen pse_637.030 des 18. Jahrhunderts und durch das erwachende pse_637.031 Sozialgefühl im 19. Jahrhundert noch gefördert. Daher kann pse_637.032 der Altphilologe Schadewaldt sagen, daß Furcht und Mitleid pse_637.033 in unserem heutigen Sinn die griechischen Worte nicht mehr pse_637.034 richtig wiedergeben, daß sogar Schrecken treffender als pse_637.035 Furcht sei. Schadewaldt meint, daß >phobos< durch Schauder, pse_637.036 >eleos< durch Jammer am besten wiedergegeben sei. Diese pse_637.037 ganze Auseinandersetzung zeigt zweierlei: 1. Wandlungen pse_637.038 der Auffassung von der tragischen Wirkung, daher auch vom
pse_637.001 Der Mangel an Einsicht ist die Ursache für das Unglück, in pse_637.002 das ein Mensch in der Tragödie gerät. Und er führt uns zu den pse_637.003 Gefühlen, die man als Furcht und Mitleid bezeichnet. Aber pse_637.004 beide griechischen Worte sind im Lauf der Zeiten verschieden pse_637.005 übersetzt und damit gedeutet worden. Solche Übersetzung und pse_637.006 Deutung zeigt zugleich, worin man in der betreffenden Zeit pse_637.007 die tragische Wirkung sah. In der Barocktheorie hat man mehr pse_637.008 Gewicht auf die Furcht als auf das Mitleid gelegt. Zugleich pse_637.009 wurde dieses Wort ›phobos‹ aber mit Schrecken wiedergegeben. pse_637.010 Der Schrecken über die Furchtbarkeiten, denen große pse_637.011 Menschen ausgesetzt sind, ist die Wirkung, die der Barockmensch pse_637.012 an der Tragödie erfährt. Dazu kommt noch die Bewunderung, pse_637.013 die man der Haltung der Helden im Unglück pse_637.014 zollt. Alles ist also auf eine starke Erhebung aus dem Alltag abgestellt. pse_637.015 In der Aufklärungszeit, besonders deutlich bei Lessing, pse_637.016 lehnt man den Schrecken ab, setzt dafür Furcht, betont aber pse_637.017 viel mehr das Mitleid. Auch die Furcht bezeichnet Lessing als pse_637.018 das auf uns selbst bezogene Mitleid. Damit wird die philanthropische pse_637.019 Einstellung dieser Zeit deutlich. Das rein menschliche pse_637.020 Mitfühlen mit einem unseresgleichen im Unglück tritt pse_637.021 an die Stelle erhabener Gefühle. Tragisches Mitleid ist nun pse_637.022 der höchste Grad der Anteilnahme des erschütterten Zuschauers. pse_637.023 Noch Schiller kommt von diesem Gefühl des Mitleids pse_637.024 in seiner Theorie und bei der Überlegung der Tragödienpläne pse_637.025 nie recht los. Neuerdings hat man nun zu zeigen pse_637.026 versucht, daß durch die ganze ethische Entwicklung aus dem pse_637.027 Geist des Christentums die Begriffe Furcht und Mitleid auf pse_637.028 sanftere und gleichsam mittlere Bereiche bezogen werden. pse_637.029 Diese Entwicklung wurde durch die philanthropischen Neigungen pse_637.030 des 18. Jahrhunderts und durch das erwachende pse_637.031 Sozialgefühl im 19. Jahrhundert noch gefördert. Daher kann pse_637.032 der Altphilologe Schadewaldt sagen, daß Furcht und Mitleid pse_637.033 in unserem heutigen Sinn die griechischen Worte nicht mehr pse_637.034 richtig wiedergeben, daß sogar Schrecken treffender als pse_637.035 Furcht sei. Schadewaldt meint, daß ›phobos‹ durch Schauder, pse_637.036 ›eleos‹ durch Jammer am besten wiedergegeben sei. Diese pse_637.037 ganze Auseinandersetzung zeigt zweierlei: 1. Wandlungen pse_637.038 der Auffassung von der tragischen Wirkung, daher auch vom
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0653"n="637"/><lbn="pse_637.001"/>
Der Mangel an Einsicht ist die Ursache für das Unglück, in <lbn="pse_637.002"/>
das ein Mensch in der Tragödie gerät. Und er führt uns zu den <lbn="pse_637.003"/>
Gefühlen, die man als Furcht und Mitleid bezeichnet. Aber <lbn="pse_637.004"/>
beide griechischen Worte sind im Lauf der Zeiten verschieden <lbn="pse_637.005"/>
übersetzt und damit gedeutet worden. Solche Übersetzung und <lbn="pse_637.006"/>
Deutung zeigt zugleich, worin man in der betreffenden Zeit <lbn="pse_637.007"/>
die tragische Wirkung sah. In der Barocktheorie hat man mehr <lbn="pse_637.008"/>
Gewicht auf die Furcht als auf das Mitleid gelegt. Zugleich <lbn="pse_637.009"/>
wurde dieses Wort ›phobos‹ aber mit Schrecken wiedergegeben. <lbn="pse_637.010"/>
Der Schrecken über die Furchtbarkeiten, denen große <lbn="pse_637.011"/>
Menschen ausgesetzt sind, ist die Wirkung, die der Barockmensch <lbn="pse_637.012"/>
an der Tragödie erfährt. Dazu kommt noch die Bewunderung, <lbn="pse_637.013"/>
die man der Haltung der Helden im Unglück <lbn="pse_637.014"/>
zollt. Alles ist also auf eine starke Erhebung aus dem Alltag abgestellt. <lbn="pse_637.015"/>
In der Aufklärungszeit, besonders deutlich bei Lessing, <lbn="pse_637.016"/>
lehnt man den Schrecken ab, setzt dafür Furcht, betont aber <lbn="pse_637.017"/>
viel mehr das Mitleid. Auch die Furcht bezeichnet Lessing als <lbn="pse_637.018"/>
das auf uns selbst bezogene Mitleid. Damit wird die philanthropische <lbn="pse_637.019"/>
Einstellung dieser Zeit deutlich. Das rein menschliche <lbn="pse_637.020"/>
Mitfühlen mit einem unseresgleichen im Unglück tritt <lbn="pse_637.021"/>
an die Stelle erhabener Gefühle. Tragisches Mitleid ist nun <lbn="pse_637.022"/>
der höchste Grad der Anteilnahme des erschütterten Zuschauers. <lbn="pse_637.023"/>
Noch Schiller kommt von diesem Gefühl des Mitleids <lbn="pse_637.024"/>
in seiner Theorie und bei der Überlegung der Tragödienpläne <lbn="pse_637.025"/>
nie recht los. Neuerdings hat man nun zu zeigen <lbn="pse_637.026"/>
versucht, daß durch die ganze ethische Entwicklung aus dem <lbn="pse_637.027"/>
Geist des Christentums die Begriffe Furcht und Mitleid auf <lbn="pse_637.028"/>
sanftere und gleichsam mittlere Bereiche bezogen werden. <lbn="pse_637.029"/>
Diese Entwicklung wurde durch die philanthropischen Neigungen <lbn="pse_637.030"/>
des 18. Jahrhunderts und durch das erwachende <lbn="pse_637.031"/>
Sozialgefühl im 19. Jahrhundert noch gefördert. Daher kann <lbn="pse_637.032"/>
der Altphilologe Schadewaldt sagen, daß Furcht und Mitleid <lbn="pse_637.033"/>
in unserem heutigen Sinn die griechischen Worte nicht mehr <lbn="pse_637.034"/>
richtig wiedergeben, daß sogar Schrecken treffender als <lbn="pse_637.035"/>
Furcht sei. Schadewaldt meint, daß ›phobos‹ durch Schauder, <lbn="pse_637.036"/>›eleos‹ durch Jammer am besten wiedergegeben sei. Diese <lbn="pse_637.037"/>
ganze Auseinandersetzung zeigt zweierlei: 1. Wandlungen <lbn="pse_637.038"/>
der Auffassung von der tragischen Wirkung, daher auch vom
</p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[637/0653]
pse_637.001
Der Mangel an Einsicht ist die Ursache für das Unglück, in pse_637.002
das ein Mensch in der Tragödie gerät. Und er führt uns zu den pse_637.003
Gefühlen, die man als Furcht und Mitleid bezeichnet. Aber pse_637.004
beide griechischen Worte sind im Lauf der Zeiten verschieden pse_637.005
übersetzt und damit gedeutet worden. Solche Übersetzung und pse_637.006
Deutung zeigt zugleich, worin man in der betreffenden Zeit pse_637.007
die tragische Wirkung sah. In der Barocktheorie hat man mehr pse_637.008
Gewicht auf die Furcht als auf das Mitleid gelegt. Zugleich pse_637.009
wurde dieses Wort ›phobos‹ aber mit Schrecken wiedergegeben. pse_637.010
Der Schrecken über die Furchtbarkeiten, denen große pse_637.011
Menschen ausgesetzt sind, ist die Wirkung, die der Barockmensch pse_637.012
an der Tragödie erfährt. Dazu kommt noch die Bewunderung, pse_637.013
die man der Haltung der Helden im Unglück pse_637.014
zollt. Alles ist also auf eine starke Erhebung aus dem Alltag abgestellt. pse_637.015
In der Aufklärungszeit, besonders deutlich bei Lessing, pse_637.016
lehnt man den Schrecken ab, setzt dafür Furcht, betont aber pse_637.017
viel mehr das Mitleid. Auch die Furcht bezeichnet Lessing als pse_637.018
das auf uns selbst bezogene Mitleid. Damit wird die philanthropische pse_637.019
Einstellung dieser Zeit deutlich. Das rein menschliche pse_637.020
Mitfühlen mit einem unseresgleichen im Unglück tritt pse_637.021
an die Stelle erhabener Gefühle. Tragisches Mitleid ist nun pse_637.022
der höchste Grad der Anteilnahme des erschütterten Zuschauers. pse_637.023
Noch Schiller kommt von diesem Gefühl des Mitleids pse_637.024
in seiner Theorie und bei der Überlegung der Tragödienpläne pse_637.025
nie recht los. Neuerdings hat man nun zu zeigen pse_637.026
versucht, daß durch die ganze ethische Entwicklung aus dem pse_637.027
Geist des Christentums die Begriffe Furcht und Mitleid auf pse_637.028
sanftere und gleichsam mittlere Bereiche bezogen werden. pse_637.029
Diese Entwicklung wurde durch die philanthropischen Neigungen pse_637.030
des 18. Jahrhunderts und durch das erwachende pse_637.031
Sozialgefühl im 19. Jahrhundert noch gefördert. Daher kann pse_637.032
der Altphilologe Schadewaldt sagen, daß Furcht und Mitleid pse_637.033
in unserem heutigen Sinn die griechischen Worte nicht mehr pse_637.034
richtig wiedergeben, daß sogar Schrecken treffender als pse_637.035
Furcht sei. Schadewaldt meint, daß ›phobos‹ durch Schauder, pse_637.036
›eleos‹ durch Jammer am besten wiedergegeben sei. Diese pse_637.037
ganze Auseinandersetzung zeigt zweierlei: 1. Wandlungen pse_637.038
der Auffassung von der tragischen Wirkung, daher auch vom
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 637. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/653>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.