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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Der Mangel an Einsicht ist die Ursache für das Unglück, in pse_637.002
das ein Mensch in der Tragödie gerät. Und er führt uns zu den pse_637.003
Gefühlen, die man als Furcht und Mitleid bezeichnet. Aber pse_637.004
beide griechischen Worte sind im Lauf der Zeiten verschieden pse_637.005
übersetzt und damit gedeutet worden. Solche Übersetzung und pse_637.006
Deutung zeigt zugleich, worin man in der betreffenden Zeit pse_637.007
die tragische Wirkung sah. In der Barocktheorie hat man mehr pse_637.008
Gewicht auf die Furcht als auf das Mitleid gelegt. Zugleich pse_637.009
wurde dieses Wort >phobos< aber mit Schrecken wiedergegeben. pse_637.010
Der Schrecken über die Furchtbarkeiten, denen große pse_637.011
Menschen ausgesetzt sind, ist die Wirkung, die der Barockmensch pse_637.012
an der Tragödie erfährt. Dazu kommt noch die Bewunderung, pse_637.013
die man der Haltung der Helden im Unglück pse_637.014
zollt. Alles ist also auf eine starke Erhebung aus dem Alltag abgestellt. pse_637.015
In der Aufklärungszeit, besonders deutlich bei Lessing, pse_637.016
lehnt man den Schrecken ab, setzt dafür Furcht, betont aber pse_637.017
viel mehr das Mitleid. Auch die Furcht bezeichnet Lessing als pse_637.018
das auf uns selbst bezogene Mitleid. Damit wird die philanthropische pse_637.019
Einstellung dieser Zeit deutlich. Das rein menschliche pse_637.020
Mitfühlen mit einem unseresgleichen im Unglück tritt pse_637.021
an die Stelle erhabener Gefühle. Tragisches Mitleid ist nun pse_637.022
der höchste Grad der Anteilnahme des erschütterten Zuschauers. pse_637.023
Noch Schiller kommt von diesem Gefühl des Mitleids pse_637.024
in seiner Theorie und bei der Überlegung der Tragödienpläne pse_637.025
nie recht los. Neuerdings hat man nun zu zeigen pse_637.026
versucht, daß durch die ganze ethische Entwicklung aus dem pse_637.027
Geist des Christentums die Begriffe Furcht und Mitleid auf pse_637.028
sanftere und gleichsam mittlere Bereiche bezogen werden. pse_637.029
Diese Entwicklung wurde durch die philanthropischen Neigungen pse_637.030
des 18. Jahrhunderts und durch das erwachende pse_637.031
Sozialgefühl im 19. Jahrhundert noch gefördert. Daher kann pse_637.032
der Altphilologe Schadewaldt sagen, daß Furcht und Mitleid pse_637.033
in unserem heutigen Sinn die griechischen Worte nicht mehr pse_637.034
richtig wiedergeben, daß sogar Schrecken treffender als pse_637.035
Furcht sei. Schadewaldt meint, daß >phobos< durch Schauder, pse_637.036
>eleos< durch Jammer am besten wiedergegeben sei. Diese pse_637.037
ganze Auseinandersetzung zeigt zweierlei: 1. Wandlungen pse_637.038
der Auffassung von der tragischen Wirkung, daher auch vom

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Der Mangel an Einsicht ist die Ursache für das Unglück, in pse_637.002
das ein Mensch in der Tragödie gerät. Und er führt uns zu den pse_637.003
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Menschen ausgesetzt sind, ist die Wirkung, die der Barockmensch pse_637.012
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Geist des Christentums die Begriffe Furcht und Mitleid auf pse_637.028
sanftere und gleichsam mittlere Bereiche bezogen werden. pse_637.029
Diese Entwicklung wurde durch die philanthropischen Neigungen pse_637.030
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Sozialgefühl im 19. Jahrhundert noch gefördert. Daher kann pse_637.032
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richtig wiedergeben, daß sogar Schrecken treffender als pse_637.035
Furcht sei. Schadewaldt meint, daß ›phobos‹ durch Schauder, pse_637.036
›eleos‹ durch Jammer am besten wiedergegeben sei. Diese pse_637.037
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[637/0653] pse_637.001 Der Mangel an Einsicht ist die Ursache für das Unglück, in pse_637.002 das ein Mensch in der Tragödie gerät. Und er führt uns zu den pse_637.003 Gefühlen, die man als Furcht und Mitleid bezeichnet. Aber pse_637.004 beide griechischen Worte sind im Lauf der Zeiten verschieden pse_637.005 übersetzt und damit gedeutet worden. Solche Übersetzung und pse_637.006 Deutung zeigt zugleich, worin man in der betreffenden Zeit pse_637.007 die tragische Wirkung sah. In der Barocktheorie hat man mehr pse_637.008 Gewicht auf die Furcht als auf das Mitleid gelegt. Zugleich pse_637.009 wurde dieses Wort ›phobos‹ aber mit Schrecken wiedergegeben. pse_637.010 Der Schrecken über die Furchtbarkeiten, denen große pse_637.011 Menschen ausgesetzt sind, ist die Wirkung, die der Barockmensch pse_637.012 an der Tragödie erfährt. Dazu kommt noch die Bewunderung, pse_637.013 die man der Haltung der Helden im Unglück pse_637.014 zollt. Alles ist also auf eine starke Erhebung aus dem Alltag abgestellt. pse_637.015 In der Aufklärungszeit, besonders deutlich bei Lessing, pse_637.016 lehnt man den Schrecken ab, setzt dafür Furcht, betont aber pse_637.017 viel mehr das Mitleid. Auch die Furcht bezeichnet Lessing als pse_637.018 das auf uns selbst bezogene Mitleid. Damit wird die philanthropische pse_637.019 Einstellung dieser Zeit deutlich. Das rein menschliche pse_637.020 Mitfühlen mit einem unseresgleichen im Unglück tritt pse_637.021 an die Stelle erhabener Gefühle. Tragisches Mitleid ist nun pse_637.022 der höchste Grad der Anteilnahme des erschütterten Zuschauers. pse_637.023 Noch Schiller kommt von diesem Gefühl des Mitleids pse_637.024 in seiner Theorie und bei der Überlegung der Tragödienpläne pse_637.025 nie recht los. Neuerdings hat man nun zu zeigen pse_637.026 versucht, daß durch die ganze ethische Entwicklung aus dem pse_637.027 Geist des Christentums die Begriffe Furcht und Mitleid auf pse_637.028 sanftere und gleichsam mittlere Bereiche bezogen werden. pse_637.029 Diese Entwicklung wurde durch die philanthropischen Neigungen pse_637.030 des 18. Jahrhunderts und durch das erwachende pse_637.031 Sozialgefühl im 19. Jahrhundert noch gefördert. Daher kann pse_637.032 der Altphilologe Schadewaldt sagen, daß Furcht und Mitleid pse_637.033 in unserem heutigen Sinn die griechischen Worte nicht mehr pse_637.034 richtig wiedergeben, daß sogar Schrecken treffender als pse_637.035 Furcht sei. Schadewaldt meint, daß ›phobos‹ durch Schauder, pse_637.036 ›eleos‹ durch Jammer am besten wiedergegeben sei. Diese pse_637.037 ganze Auseinandersetzung zeigt zweierlei: 1. Wandlungen pse_637.038 der Auffassung von der tragischen Wirkung, daher auch vom

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 637. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/653>, abgerufen am 22.11.2024.