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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Tragischen. In der Bewunderung des Barockzeitalters spricht pse_638.002
sich die Einstellung zum leidenden und standhaften Menschen pse_638.003
aus, im Mitleid des 18. Jahrhunderts die sanftere, rührselige pse_638.004
Haltung dieser Zeit, in der Neuübersetzung durch Schauder pse_638.005
und Jammer die Art, wie wir Menschen unseres Jahrhunderts pse_638.006
das Tragische erfassen. Aber immer bleibt das eine: für jede pse_638.007
Epoche stellt die tragische Wirkung die höchste Erschütterung pse_638.008
und zugleich innerliche Erhebung über den Alltag dar, deren pse_638.009
die Zeit eben fähig war. Dieser Grad ist verschieden, und daher pse_638.010
können wir von unserer Zeit aus sagen, daß etwa das pse_638.011
18. Jahrhundert der tiefsten tragischen Erlebnisse gar nicht pse_638.012
fähig war. 2. Man bemüht sich, aus der jeweiligen Fähigkeit pse_638.013
zu tragischem Erleben zu erweisen, daß Aristoteles die richtige pse_638.014
Einstellung zur tragischen Wirkung gehabt habe. Wenn pse_638.015
die Übersetzung von >phobos< und >eleos< durch Schauder pse_638.016
und Jammer dem griechischen Denken entspricht, dann kann pse_638.017
man sagen, daß die Auffassung des Aristoteles der unseren pse_638.018
von heute sehr nahe kommt.

pse_638.019
Ebenso schwierig ist die Frage nach dem Wesen der Katharsis. pse_638.020
Zuerst bleibt schon zu klären, wie der Ausdruck "Reinigung pse_638.021
dergleichen Leidenschaften" aufzufassen ist: wird von pse_638.022
den Leidenschaften gereinigt oder werden diese gereinigt, pse_638.023
oder reinigen diese? Alle drei Möglichkeiten liegen in der pse_638.024
griechischen Fügung, und alle drei haben ihre Vertreter gefunden. pse_638.025
Heute nimmt man an, daß es sich um die Reinigung pse_638.026
von den Leidenschaften handelt, während Lessing bekanntlich pse_638.027
an die Reinigung der Leidenschaften dachte. Zugleich pse_638.028
glaubt man heute auch, daß mit "dergleichen Leidenschaften" pse_638.029
Schauder und Jammer und ähnliche Gefühle, nicht die pse_638.030
im Stück dargestellten Affekte gemeint seien, wie das die pse_638.031
Barockzeit dachte. Damit aber wird es notwendig, den pse_638.032
tieferen Sinn des Wortes Katharsis zu erfassen. Auch in pse_638.033
dieser Hinsicht haben die einzelnen Theoretiker verschiedene pse_638.034
Auffassungen vertreten: eine ethische Ausdeutung zeigt drei pse_638.035
Spielarten: eine Art Abhärtung, indem wir uns durch den pse_638.036
Anblick des Unglücks an Furcht gewöhnen sollen, eine Art pse_638.037
Abschreckung, indem wir durch die Furcht vor den bösen pse_638.038
dargestellten Leidenschaften behütet werden sollen, eine Art

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Tragischen. In der Bewunderung des Barockzeitalters spricht pse_638.002
sich die Einstellung zum leidenden und standhaften Menschen pse_638.003
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und Jammer die Art, wie wir Menschen unseres Jahrhunderts pse_638.006
das Tragische erfassen. Aber immer bleibt das eine: für jede pse_638.007
Epoche stellt die tragische Wirkung die höchste Erschütterung pse_638.008
und zugleich innerliche Erhebung über den Alltag dar, deren pse_638.009
die Zeit eben fähig war. Dieser Grad ist verschieden, und daher pse_638.010
können wir von unserer Zeit aus sagen, daß etwa das pse_638.011
18. Jahrhundert der tiefsten tragischen Erlebnisse gar nicht pse_638.012
fähig war. 2. Man bemüht sich, aus der jeweiligen Fähigkeit pse_638.013
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Einstellung zur tragischen Wirkung gehabt habe. Wenn pse_638.015
die Übersetzung von ›phobos‹ und ›eleos‹ durch Schauder pse_638.016
und Jammer dem griechischen Denken entspricht, dann kann pse_638.017
man sagen, daß die Auffassung des Aristoteles der unseren pse_638.018
von heute sehr nahe kommt.

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Ebenso schwierig ist die Frage nach dem Wesen der Katharsis. pse_638.020
Zuerst bleibt schon zu klären, wie der Ausdruck »Reinigung pse_638.021
dergleichen Leidenschaften« aufzufassen ist: wird von pse_638.022
den Leidenschaften gereinigt oder werden diese gereinigt, pse_638.023
oder reinigen diese? Alle drei Möglichkeiten liegen in der pse_638.024
griechischen Fügung, und alle drei haben ihre Vertreter gefunden. pse_638.025
Heute nimmt man an, daß es sich um die Reinigung pse_638.026
von den Leidenschaften handelt, während Lessing bekanntlich pse_638.027
an die Reinigung der Leidenschaften dachte. Zugleich pse_638.028
glaubt man heute auch, daß mit »dergleichen Leidenschaften« pse_638.029
Schauder und Jammer und ähnliche Gefühle, nicht die pse_638.030
im Stück dargestellten Affekte gemeint seien, wie das die pse_638.031
Barockzeit dachte. Damit aber wird es notwendig, den pse_638.032
tieferen Sinn des Wortes Katharsis zu erfassen. Auch in pse_638.033
dieser Hinsicht haben die einzelnen Theoretiker verschiedene pse_638.034
Auffassungen vertreten: eine ethische Ausdeutung zeigt drei pse_638.035
Spielarten: eine Art Abhärtung, indem wir uns durch den pse_638.036
Anblick des Unglücks an Furcht gewöhnen sollen, eine Art pse_638.037
Abschreckung, indem wir durch die Furcht vor den bösen pse_638.038
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[638/0654] pse_638.001 Tragischen. In der Bewunderung des Barockzeitalters spricht pse_638.002 sich die Einstellung zum leidenden und standhaften Menschen pse_638.003 aus, im Mitleid des 18. Jahrhunderts die sanftere, rührselige pse_638.004 Haltung dieser Zeit, in der Neuübersetzung durch Schauder pse_638.005 und Jammer die Art, wie wir Menschen unseres Jahrhunderts pse_638.006 das Tragische erfassen. Aber immer bleibt das eine: für jede pse_638.007 Epoche stellt die tragische Wirkung die höchste Erschütterung pse_638.008 und zugleich innerliche Erhebung über den Alltag dar, deren pse_638.009 die Zeit eben fähig war. Dieser Grad ist verschieden, und daher pse_638.010 können wir von unserer Zeit aus sagen, daß etwa das pse_638.011 18. Jahrhundert der tiefsten tragischen Erlebnisse gar nicht pse_638.012 fähig war. 2. Man bemüht sich, aus der jeweiligen Fähigkeit pse_638.013 zu tragischem Erleben zu erweisen, daß Aristoteles die richtige pse_638.014 Einstellung zur tragischen Wirkung gehabt habe. Wenn pse_638.015 die Übersetzung von ›phobos‹ und ›eleos‹ durch Schauder pse_638.016 und Jammer dem griechischen Denken entspricht, dann kann pse_638.017 man sagen, daß die Auffassung des Aristoteles der unseren pse_638.018 von heute sehr nahe kommt. pse_638.019 Ebenso schwierig ist die Frage nach dem Wesen der Katharsis. pse_638.020 Zuerst bleibt schon zu klären, wie der Ausdruck »Reinigung pse_638.021 dergleichen Leidenschaften« aufzufassen ist: wird von pse_638.022 den Leidenschaften gereinigt oder werden diese gereinigt, pse_638.023 oder reinigen diese? Alle drei Möglichkeiten liegen in der pse_638.024 griechischen Fügung, und alle drei haben ihre Vertreter gefunden. pse_638.025 Heute nimmt man an, daß es sich um die Reinigung pse_638.026 von den Leidenschaften handelt, während Lessing bekanntlich pse_638.027 an die Reinigung der Leidenschaften dachte. Zugleich pse_638.028 glaubt man heute auch, daß mit »dergleichen Leidenschaften« pse_638.029 Schauder und Jammer und ähnliche Gefühle, nicht die pse_638.030 im Stück dargestellten Affekte gemeint seien, wie das die pse_638.031 Barockzeit dachte. Damit aber wird es notwendig, den pse_638.032 tieferen Sinn des Wortes Katharsis zu erfassen. Auch in pse_638.033 dieser Hinsicht haben die einzelnen Theoretiker verschiedene pse_638.034 Auffassungen vertreten: eine ethische Ausdeutung zeigt drei pse_638.035 Spielarten: eine Art Abhärtung, indem wir uns durch den pse_638.036 Anblick des Unglücks an Furcht gewöhnen sollen, eine Art pse_638.037 Abschreckung, indem wir durch die Furcht vor den bösen pse_638.038 dargestellten Leidenschaften behütet werden sollen, eine Art

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 638. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/654>, abgerufen am 23.11.2024.