pse_679.001 Begegnung, die dann unmittelbar aufs Gemüt wirkt, in dem pse_679.002 Vorgestellten erhellt sich ein Weltzusammenhang, vor allem pse_679.003 eben durch die Gemütsberührung; aber die Erhellung selbst pse_679.004 kann wieder weitere Tiefen unseres Inneren erregen oder aufwühlen. pse_679.005 Das ist ein sehr verwickelter und im großen einheitlicher pse_679.006 Vorgang: das Ins-Dasein-Treten der Dichtung für uns pse_679.007 Menschen.
pse_679.008 Wir haben nun schon erkannt, daß die unmittelbare und pse_679.009 eigenste Wirkung Berührung unseres Gemütes ist. Wieder pse_679.010 fassen wir das Wort als Ausdruck für das Innerste, den Kern pse_679.011 der menschlichen Existenz auf. Eine Dichtung, deren "Wirkung" pse_679.012 an äußeren Bereichen hängen bliebe, hätte in ihrer pse_679.013 dichterischen Wirkung versagt. Bloß verstandesmäßiges pse_679.014 Feststellen und Verstehen der einzelnen Schichten und Glieder, pse_679.015 etwa des "Inhalts", der Versform, der Aufbaugesetze usw., kann pse_679.016 eine Vorbereitung sein, kann aber auch einen Irrweg bedeuten. pse_679.017 Auf keinen Fall ist das die Wirkung. Diese kann man pse_679.018 am besten als Gemütsführung allgemein bezeichnen: das pse_679.019 Gemüt, also das Innerste des Menschen, sein Streben und pse_679.020 Wollen und die mannigfachen Gefühle, die durch eine Dichtung pse_679.021 angesprochen werden, werden in eine bestimmte Bahn pse_679.022 gebracht, nach einer Richtung gelenkt, sie werden verstärkt, pse_679.023 veredelt, miteinander zu einem Höheren verschmolzen. pse_679.024 Diese Ausrichtung des Gemütes geschieht durch eine starke pse_679.025 Erregung, die Schiller selbst als Erschütterung bezeichnet. pse_679.026 In seiner bewußten Planung der späteren Dramen hat er pse_679.027 besonderen Bedacht auf die Erschütterung, das Aufwühlen pse_679.028 des menschlichen Gemütes genommen.
pse_679.029 Die Richtung, in die ein menschliches Gemüt durch die pse_679.030 Dichtung gelenkt wird, kann durchaus verschieden sein. Das pse_679.031 hängt unmittelbar von der Art der Dichtung selbst ab. So pse_679.032 kommt es, daß die eine Dichtung uns erheitert, die andere pse_679.033 belustigt, eine andere uns erhebt, andere wieder wühlen uns pse_679.034 auf, stimmen uns ernst, lassen uns erschaudern. Immer wird pse_679.035 da der Mensch in wesentliche Bereiche hineingezogen, sein pse_679.036 Innerstes wird angesprochen, tief davon betroffen. Darin pse_679.037 liegen die Ansätze für die Wirkungen, die man oberflächlicherweise pse_679.038 meist im Auge hat, wenn man, beinahe im moralischen
pse_679.001 Begegnung, die dann unmittelbar aufs Gemüt wirkt, in dem pse_679.002 Vorgestellten erhellt sich ein Weltzusammenhang, vor allem pse_679.003 eben durch die Gemütsberührung; aber die Erhellung selbst pse_679.004 kann wieder weitere Tiefen unseres Inneren erregen oder aufwühlen. pse_679.005 Das ist ein sehr verwickelter und im großen einheitlicher pse_679.006 Vorgang: das Ins-Dasein-Treten der Dichtung für uns pse_679.007 Menschen.
pse_679.008 Wir haben nun schon erkannt, daß die unmittelbare und pse_679.009 eigenste Wirkung Berührung unseres Gemütes ist. Wieder pse_679.010 fassen wir das Wort als Ausdruck für das Innerste, den Kern pse_679.011 der menschlichen Existenz auf. Eine Dichtung, deren »Wirkung« pse_679.012 an äußeren Bereichen hängen bliebe, hätte in ihrer pse_679.013 dichterischen Wirkung versagt. Bloß verstandesmäßiges pse_679.014 Feststellen und Verstehen der einzelnen Schichten und Glieder, pse_679.015 etwa des »Inhalts«, der Versform, der Aufbaugesetze usw., kann pse_679.016 eine Vorbereitung sein, kann aber auch einen Irrweg bedeuten. pse_679.017 Auf keinen Fall ist das die Wirkung. Diese kann man pse_679.018 am besten als Gemütsführung allgemein bezeichnen: das pse_679.019 Gemüt, also das Innerste des Menschen, sein Streben und pse_679.020 Wollen und die mannigfachen Gefühle, die durch eine Dichtung pse_679.021 angesprochen werden, werden in eine bestimmte Bahn pse_679.022 gebracht, nach einer Richtung gelenkt, sie werden verstärkt, pse_679.023 veredelt, miteinander zu einem Höheren verschmolzen. pse_679.024 Diese Ausrichtung des Gemütes geschieht durch eine starke pse_679.025 Erregung, die Schiller selbst als Erschütterung bezeichnet. pse_679.026 In seiner bewußten Planung der späteren Dramen hat er pse_679.027 besonderen Bedacht auf die Erschütterung, das Aufwühlen pse_679.028 des menschlichen Gemütes genommen.
pse_679.029 Die Richtung, in die ein menschliches Gemüt durch die pse_679.030 Dichtung gelenkt wird, kann durchaus verschieden sein. Das pse_679.031 hängt unmittelbar von der Art der Dichtung selbst ab. So pse_679.032 kommt es, daß die eine Dichtung uns erheitert, die andere pse_679.033 belustigt, eine andere uns erhebt, andere wieder wühlen uns pse_679.034 auf, stimmen uns ernst, lassen uns erschaudern. Immer wird pse_679.035 da der Mensch in wesentliche Bereiche hineingezogen, sein pse_679.036 Innerstes wird angesprochen, tief davon betroffen. Darin pse_679.037 liegen die Ansätze für die Wirkungen, die man oberflächlicherweise pse_679.038 meist im Auge hat, wenn man, beinahe im moralischen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0695"n="679"/><lbn="pse_679.001"/>
Begegnung, die dann unmittelbar aufs Gemüt wirkt, in dem <lbn="pse_679.002"/>
Vorgestellten erhellt sich ein Weltzusammenhang, vor allem <lbn="pse_679.003"/>
eben durch die Gemütsberührung; aber die Erhellung selbst <lbn="pse_679.004"/>
kann wieder weitere Tiefen unseres Inneren erregen oder aufwühlen. <lbn="pse_679.005"/>
Das ist ein sehr verwickelter und im großen einheitlicher <lbn="pse_679.006"/>
Vorgang: das Ins-Dasein-Treten der Dichtung für uns <lbn="pse_679.007"/>
Menschen.</p><p><lbn="pse_679.008"/>
Wir haben nun schon erkannt, daß die unmittelbare und <lbn="pse_679.009"/>
eigenste Wirkung Berührung unseres Gemütes ist. Wieder <lbn="pse_679.010"/>
fassen wir das Wort als Ausdruck für das Innerste, den Kern <lbn="pse_679.011"/>
der menschlichen Existenz auf. Eine Dichtung, deren »Wirkung« <lbn="pse_679.012"/>
an äußeren Bereichen hängen bliebe, hätte in ihrer <lbn="pse_679.013"/>
dichterischen Wirkung versagt. Bloß verstandesmäßiges <lbn="pse_679.014"/>
Feststellen und Verstehen der einzelnen Schichten und Glieder, <lbn="pse_679.015"/>
etwa des »Inhalts«, der Versform, der Aufbaugesetze usw., kann <lbn="pse_679.016"/>
eine Vorbereitung sein, kann aber auch einen Irrweg bedeuten. <lbn="pse_679.017"/>
Auf keinen Fall ist das die Wirkung. Diese kann man <lbn="pse_679.018"/>
am besten als Gemütsführung allgemein bezeichnen: das <lbn="pse_679.019"/>
Gemüt, also das Innerste des Menschen, sein Streben und <lbn="pse_679.020"/>
Wollen und die mannigfachen Gefühle, die durch eine Dichtung <lbn="pse_679.021"/>
angesprochen werden, werden in eine bestimmte Bahn <lbn="pse_679.022"/>
gebracht, nach einer Richtung gelenkt, sie werden verstärkt, <lbn="pse_679.023"/>
veredelt, miteinander zu einem Höheren verschmolzen. <lbn="pse_679.024"/>
Diese Ausrichtung des Gemütes geschieht durch eine starke <lbn="pse_679.025"/>
Erregung, die Schiller selbst als Erschütterung bezeichnet. <lbn="pse_679.026"/>
In seiner bewußten Planung der späteren Dramen hat er <lbn="pse_679.027"/>
besonderen Bedacht auf die Erschütterung, das Aufwühlen <lbn="pse_679.028"/>
des menschlichen Gemütes genommen.</p><p><lbn="pse_679.029"/>
Die Richtung, in die ein menschliches Gemüt durch die <lbn="pse_679.030"/>
Dichtung gelenkt wird, kann durchaus verschieden sein. Das <lbn="pse_679.031"/>
hängt unmittelbar von der Art der Dichtung selbst ab. So <lbn="pse_679.032"/>
kommt es, daß die eine Dichtung uns erheitert, die andere <lbn="pse_679.033"/>
belustigt, eine andere uns erhebt, andere wieder wühlen uns <lbn="pse_679.034"/>
auf, stimmen uns ernst, lassen uns erschaudern. Immer wird <lbn="pse_679.035"/>
da der Mensch in wesentliche Bereiche hineingezogen, sein <lbn="pse_679.036"/>
Innerstes wird angesprochen, tief davon betroffen. Darin <lbn="pse_679.037"/>
liegen die Ansätze für die Wirkungen, die man oberflächlicherweise <lbn="pse_679.038"/>
meist im Auge hat, wenn man, beinahe im moralischen
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[679/0695]
pse_679.001
Begegnung, die dann unmittelbar aufs Gemüt wirkt, in dem pse_679.002
Vorgestellten erhellt sich ein Weltzusammenhang, vor allem pse_679.003
eben durch die Gemütsberührung; aber die Erhellung selbst pse_679.004
kann wieder weitere Tiefen unseres Inneren erregen oder aufwühlen. pse_679.005
Das ist ein sehr verwickelter und im großen einheitlicher pse_679.006
Vorgang: das Ins-Dasein-Treten der Dichtung für uns pse_679.007
Menschen.
pse_679.008
Wir haben nun schon erkannt, daß die unmittelbare und pse_679.009
eigenste Wirkung Berührung unseres Gemütes ist. Wieder pse_679.010
fassen wir das Wort als Ausdruck für das Innerste, den Kern pse_679.011
der menschlichen Existenz auf. Eine Dichtung, deren »Wirkung« pse_679.012
an äußeren Bereichen hängen bliebe, hätte in ihrer pse_679.013
dichterischen Wirkung versagt. Bloß verstandesmäßiges pse_679.014
Feststellen und Verstehen der einzelnen Schichten und Glieder, pse_679.015
etwa des »Inhalts«, der Versform, der Aufbaugesetze usw., kann pse_679.016
eine Vorbereitung sein, kann aber auch einen Irrweg bedeuten. pse_679.017
Auf keinen Fall ist das die Wirkung. Diese kann man pse_679.018
am besten als Gemütsführung allgemein bezeichnen: das pse_679.019
Gemüt, also das Innerste des Menschen, sein Streben und pse_679.020
Wollen und die mannigfachen Gefühle, die durch eine Dichtung pse_679.021
angesprochen werden, werden in eine bestimmte Bahn pse_679.022
gebracht, nach einer Richtung gelenkt, sie werden verstärkt, pse_679.023
veredelt, miteinander zu einem Höheren verschmolzen. pse_679.024
Diese Ausrichtung des Gemütes geschieht durch eine starke pse_679.025
Erregung, die Schiller selbst als Erschütterung bezeichnet. pse_679.026
In seiner bewußten Planung der späteren Dramen hat er pse_679.027
besonderen Bedacht auf die Erschütterung, das Aufwühlen pse_679.028
des menschlichen Gemütes genommen.
pse_679.029
Die Richtung, in die ein menschliches Gemüt durch die pse_679.030
Dichtung gelenkt wird, kann durchaus verschieden sein. Das pse_679.031
hängt unmittelbar von der Art der Dichtung selbst ab. So pse_679.032
kommt es, daß die eine Dichtung uns erheitert, die andere pse_679.033
belustigt, eine andere uns erhebt, andere wieder wühlen uns pse_679.034
auf, stimmen uns ernst, lassen uns erschaudern. Immer wird pse_679.035
da der Mensch in wesentliche Bereiche hineingezogen, sein pse_679.036
Innerstes wird angesprochen, tief davon betroffen. Darin pse_679.037
liegen die Ansätze für die Wirkungen, die man oberflächlicherweise pse_679.038
meist im Auge hat, wenn man, beinahe im moralischen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 679. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/695>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.