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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Sinn, vom Wirken der Kunst spricht: sie solle uns pse_680.002
bessern usw. Innere Stärkung, Klärung, Erhellung, Erschütterung pse_680.003
und Erhebung zugleich können sich wirklich auch auf pse_680.004
die Lebensführung des Menschen auswirken, können ihn sogar pse_680.005
widerstandsfähiger, leistungsfähiger, vor allem wesenhafter pse_680.006
machen. Das alles sind Folgen der Betroffenheit durch pse_680.007
Dichtung. Die Gefahr besteht, die Dichtung aus solchen pse_680.008
Folgen beurteilen zu wollen. Aber tatsächlich liegen in diesem pse_680.009
Bereich auch bedenkliche Erscheinungen, die kurz berührt pse_680.010
seien. Zu starke und zu häufige Begegnungen mit weicher, pse_680.011
ätherischer, erdenferner Dichtung können den Menschen pse_680.012
auf die Dauer tatsächlich dem Leben entfernen, ihn verweichlichen. pse_680.013
Freilich spielt da nicht einseitig die Dichtung herein, pse_680.014
sondern auch eine bestimmte innere Anlage des erlebenden pse_680.015
Menschen. Damit hängt es zusammen, wenn man von einer pse_680.016
Art seelenheilender Wirkung der Kunst spricht: sie kann mit pse_680.017
der Zeit den Verhärteten auflockern, den Weichen straffer pse_680.018
machen. Hier liegt auch die Frage, ob Kunst den Menschen pse_680.019
auch verderben könne. Es ist kein Zweifel, daß ausschließliches pse_680.020
Begegnen mit oberflächlicher, rosaroter, blaß optimistischer pse_680.021
und zu harmonischer Dichterei den Menschen aufweichen pse_680.022
kann. Aber ebenso umgekehrt: wenn nur nihilistische, pse_680.023
perverse, dem Sinnlosen und der puren Verzweiflung pse_680.024
zugeneigte Romanschöpfungen die Lektüre eines Menschen pse_680.025
wären, würde sich das in der Länge auf ihn unheilvoll auswirken. pse_680.026
Noch mehr, wenn eine ganze Gemeinschaft ausschließlich pse_680.027
solche literarische Kost bekäme. Hier ermißt man, pse_680.028
daß Kulturpolitik bedenkliche und verwerfliche Richtungen pse_680.029
einschlagen kann. Sie vermag eine Gemeinschaft zur seelischen pse_680.030
Unsicherheit, zur Werte-Unentschiedenheit, damit zu pse_680.031
Verwirrung und Gleichgültigkeit zu führen. So kann jede pse_680.032
Dichtung einerseits schlummernde Kräfte wecken und zur pse_680.033
inneren Tätigkeit anregen, sie kann aber auch hemmen und pse_680.034
fesseln, wenn etwa eine ältere hohe Kultur eine jüngere, pse_680.035
werdende überrennt. Wichtiger aber ist die Wirkung hoher pse_680.036
Dichtung. Sie führt geistig, bildet Ideale in ihren Gestalten pse_680.037
und Gestaltungen aus und regt so in sittlicher Hinsicht an.

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2. Wir fragen dann, wodurch die Wirkung zustande

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Sinn, vom Wirken der Kunst spricht: sie solle uns pse_680.002
bessern usw. Innere Stärkung, Klärung, Erhellung, Erschütterung pse_680.003
und Erhebung zugleich können sich wirklich auch auf pse_680.004
die Lebensführung des Menschen auswirken, können ihn sogar pse_680.005
widerstandsfähiger, leistungsfähiger, vor allem wesenhafter pse_680.006
machen. Das alles sind Folgen der Betroffenheit durch pse_680.007
Dichtung. Die Gefahr besteht, die Dichtung aus solchen pse_680.008
Folgen beurteilen zu wollen. Aber tatsächlich liegen in diesem pse_680.009
Bereich auch bedenkliche Erscheinungen, die kurz berührt pse_680.010
seien. Zu starke und zu häufige Begegnungen mit weicher, pse_680.011
ätherischer, erdenferner Dichtung können den Menschen pse_680.012
auf die Dauer tatsächlich dem Leben entfernen, ihn verweichlichen. pse_680.013
Freilich spielt da nicht einseitig die Dichtung herein, pse_680.014
sondern auch eine bestimmte innere Anlage des erlebenden pse_680.015
Menschen. Damit hängt es zusammen, wenn man von einer pse_680.016
Art seelenheilender Wirkung der Kunst spricht: sie kann mit pse_680.017
der Zeit den Verhärteten auflockern, den Weichen straffer pse_680.018
machen. Hier liegt auch die Frage, ob Kunst den Menschen pse_680.019
auch verderben könne. Es ist kein Zweifel, daß ausschließliches pse_680.020
Begegnen mit oberflächlicher, rosaroter, blaß optimistischer pse_680.021
und zu harmonischer Dichterei den Menschen aufweichen pse_680.022
kann. Aber ebenso umgekehrt: wenn nur nihilistische, pse_680.023
perverse, dem Sinnlosen und der puren Verzweiflung pse_680.024
zugeneigte Romanschöpfungen die Lektüre eines Menschen pse_680.025
wären, würde sich das in der Länge auf ihn unheilvoll auswirken. pse_680.026
Noch mehr, wenn eine ganze Gemeinschaft ausschließlich pse_680.027
solche literarische Kost bekäme. Hier ermißt man, pse_680.028
daß Kulturpolitik bedenkliche und verwerfliche Richtungen pse_680.029
einschlagen kann. Sie vermag eine Gemeinschaft zur seelischen pse_680.030
Unsicherheit, zur Werte-Unentschiedenheit, damit zu pse_680.031
Verwirrung und Gleichgültigkeit zu führen. So kann jede pse_680.032
Dichtung einerseits schlummernde Kräfte wecken und zur pse_680.033
inneren Tätigkeit anregen, sie kann aber auch hemmen und pse_680.034
fesseln, wenn etwa eine ältere hohe Kultur eine jüngere, pse_680.035
werdende überrennt. Wichtiger aber ist die Wirkung hoher pse_680.036
Dichtung. Sie führt geistig, bildet Ideale in ihren Gestalten pse_680.037
und Gestaltungen aus und regt so in sittlicher Hinsicht an.

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2. Wir fragen dann, wodurch die Wirkung zustande

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 680. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/696>, abgerufen am 23.11.2024.