Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_681.001
kommt. Hier ist die Dichtung von den übrigen Künsten unterschieden. pse_681.002
Denn in ihr wirkt die Sprache, damit die Tatsache, pse_681.003
daß Sprache Sinngestaltung ist. Rationale Grundlagen, pse_681.004
verstehbare Zusammenhänge, Sinn sind damit von vornherein pse_681.005
in den wirkenden Raum der Dichtung einbezogen. pse_681.006
Dichtung schafft damit sofort eine Art Milieu, eine bestimmte pse_681.007
Welt, in die wir bei der Begegnung mit ihr eintreten. Und pse_681.008
zwar ist das eine Welt für sich, keine bloße Umformung und pse_681.009
Weiterbildung der tatsächlichen Welt; wir haben das bei der pse_681.010
Frage nach dem Wirklichkeitsbezug erläutert. Das Erlebte pse_681.011
wird als volle Wirklichkeit wirksam. Wir werden von der pse_681.012
Eigenart, der Struktur und der Gestimmtheit dieser dichterischen pse_681.013
Welt eingefangen, sie bestimmt uns in unserer augenblicklichen pse_681.014
Lage. Das ist der Untergrund, auf dem das eigentlich pse_681.015
Sagbare, der Inhalt, weiter der tiefere Gehalt wirken kann. pse_681.016
Dieses Sagbare, das man gröblich auf eine Art Lehrgehalt pse_681.017
abziehen könnte, verliert schon durch diese Einbettung in den pse_681.018
dichterischen Weltzusammenhang das Lehrhaft-Rationale. pse_681.019
Aus der Art der dichterischen Welt heraus werden dann auch pse_681.020
die dargestellten Menschen und Räume wirksam, die dichterische pse_681.021
Welt wird nach allen Richtungen, in vielen Ausgliederungen pse_681.022
lebendig und reich. In diesem Zusammenhang wirken pse_681.023
sich dann Tragik, Komik, Humor usw. aus. Aber all pse_681.024
das unterscheidet sich von der Wirkungsweise etwa eines pse_681.025
philosophisch aufgebauten und dargestellten Weltbildes durch pse_681.026
die Fundierung auf die dichterische Kunst. Vorab wirkt die pse_681.027
Sprache in der Entfaltung aller ihrer Werte des Stils, dann pse_681.028
die Durchführung des Aufbaus, der Zusammenhang der pse_681.029
Symbole, die Gestaltungsebenen und Gestaltungsformen, pse_681.030
kurzum die ganze Vielschichtigkeit des dichterischen Kunstwerks. pse_681.031
In den Werten der Sprachen ruht es vor allem, wenn pse_681.032
gerade der Dichter als der Seher, der Verkünder gepriesen pse_681.033
wird und wirken kann. Das Verkündende ist keiner anderen pse_681.034
Kunst so gegeben wie der Dichtung, eben aus dem Wesen pse_681.035
der Sprache.

pse_681.036
3. Wir fragen endlich, wie diese Wirkung ausgelöst wird. pse_681.037
Das unmittelbar Gegebene ist die ganz persönliche Begegnung pse_681.038
des Einzelmenschen mit der Dichtung, das persönliche

pse_681.001
kommt. Hier ist die Dichtung von den übrigen Künsten unterschieden. pse_681.002
Denn in ihr wirkt die Sprache, damit die Tatsache, pse_681.003
daß Sprache Sinngestaltung ist. Rationale Grundlagen, pse_681.004
verstehbare Zusammenhänge, Sinn sind damit von vornherein pse_681.005
in den wirkenden Raum der Dichtung einbezogen. pse_681.006
Dichtung schafft damit sofort eine Art Milieu, eine bestimmte pse_681.007
Welt, in die wir bei der Begegnung mit ihr eintreten. Und pse_681.008
zwar ist das eine Welt für sich, keine bloße Umformung und pse_681.009
Weiterbildung der tatsächlichen Welt; wir haben das bei der pse_681.010
Frage nach dem Wirklichkeitsbezug erläutert. Das Erlebte pse_681.011
wird als volle Wirklichkeit wirksam. Wir werden von der pse_681.012
Eigenart, der Struktur und der Gestimmtheit dieser dichterischen pse_681.013
Welt eingefangen, sie bestimmt uns in unserer augenblicklichen pse_681.014
Lage. Das ist der Untergrund, auf dem das eigentlich pse_681.015
Sagbare, der Inhalt, weiter der tiefere Gehalt wirken kann. pse_681.016
Dieses Sagbare, das man gröblich auf eine Art Lehrgehalt pse_681.017
abziehen könnte, verliert schon durch diese Einbettung in den pse_681.018
dichterischen Weltzusammenhang das Lehrhaft-Rationale. pse_681.019
Aus der Art der dichterischen Welt heraus werden dann auch pse_681.020
die dargestellten Menschen und Räume wirksam, die dichterische pse_681.021
Welt wird nach allen Richtungen, in vielen Ausgliederungen pse_681.022
lebendig und reich. In diesem Zusammenhang wirken pse_681.023
sich dann Tragik, Komik, Humor usw. aus. Aber all pse_681.024
das unterscheidet sich von der Wirkungsweise etwa eines pse_681.025
philosophisch aufgebauten und dargestellten Weltbildes durch pse_681.026
die Fundierung auf die dichterische Kunst. Vorab wirkt die pse_681.027
Sprache in der Entfaltung aller ihrer Werte des Stils, dann pse_681.028
die Durchführung des Aufbaus, der Zusammenhang der pse_681.029
Symbole, die Gestaltungsebenen und Gestaltungsformen, pse_681.030
kurzum die ganze Vielschichtigkeit des dichterischen Kunstwerks. pse_681.031
In den Werten der Sprachen ruht es vor allem, wenn pse_681.032
gerade der Dichter als der Seher, der Verkünder gepriesen pse_681.033
wird und wirken kann. Das Verkündende ist keiner anderen pse_681.034
Kunst so gegeben wie der Dichtung, eben aus dem Wesen pse_681.035
der Sprache.

pse_681.036
3. Wir fragen endlich, wie diese Wirkung ausgelöst wird. pse_681.037
Das unmittelbar Gegebene ist die ganz persönliche Begegnung pse_681.038
des Einzelmenschen mit der Dichtung, das persönliche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0697" n="681"/><lb n="pse_681.001"/>
kommt. Hier ist die Dichtung von den übrigen Künsten unterschieden. <lb n="pse_681.002"/>
Denn in ihr wirkt die Sprache, damit die Tatsache, <lb n="pse_681.003"/>
daß Sprache Sinngestaltung ist. Rationale Grundlagen, <lb n="pse_681.004"/>
verstehbare Zusammenhänge, Sinn sind damit von vornherein <lb n="pse_681.005"/>
in den wirkenden Raum der Dichtung einbezogen. <lb n="pse_681.006"/>
Dichtung schafft damit sofort eine Art Milieu, eine bestimmte <lb n="pse_681.007"/>
Welt, in die wir bei der Begegnung mit ihr eintreten. Und <lb n="pse_681.008"/>
zwar ist das eine Welt für sich, keine bloße Umformung und <lb n="pse_681.009"/>
Weiterbildung der tatsächlichen Welt; wir haben das bei der <lb n="pse_681.010"/>
Frage nach dem Wirklichkeitsbezug erläutert. Das Erlebte <lb n="pse_681.011"/>
wird als volle Wirklichkeit wirksam. Wir werden von der <lb n="pse_681.012"/>
Eigenart, der Struktur und der Gestimmtheit dieser dichterischen <lb n="pse_681.013"/>
Welt eingefangen, sie bestimmt uns in unserer augenblicklichen <lb n="pse_681.014"/>
Lage. Das ist der Untergrund, auf dem das eigentlich <lb n="pse_681.015"/>
Sagbare, der Inhalt, weiter der tiefere Gehalt wirken kann. <lb n="pse_681.016"/>
Dieses Sagbare, das man gröblich auf eine Art Lehrgehalt <lb n="pse_681.017"/>
abziehen könnte, verliert schon durch diese Einbettung in den <lb n="pse_681.018"/>
dichterischen Weltzusammenhang das Lehrhaft-Rationale. <lb n="pse_681.019"/>
Aus der Art der dichterischen Welt heraus werden dann auch <lb n="pse_681.020"/>
die dargestellten Menschen und Räume wirksam, die dichterische <lb n="pse_681.021"/>
Welt wird nach allen Richtungen, in vielen Ausgliederungen <lb n="pse_681.022"/>
lebendig und reich. In diesem Zusammenhang wirken <lb n="pse_681.023"/>
sich dann Tragik, Komik, Humor usw. aus. Aber all <lb n="pse_681.024"/>
das unterscheidet sich von der Wirkungsweise etwa eines <lb n="pse_681.025"/>
philosophisch aufgebauten und dargestellten Weltbildes durch <lb n="pse_681.026"/>
die Fundierung auf die dichterische Kunst. Vorab wirkt die <lb n="pse_681.027"/>
Sprache in der Entfaltung aller ihrer Werte des Stils, dann <lb n="pse_681.028"/>
die Durchführung des Aufbaus, der Zusammenhang der <lb n="pse_681.029"/>
Symbole, die Gestaltungsebenen und Gestaltungsformen, <lb n="pse_681.030"/>
kurzum die ganze Vielschichtigkeit des dichterischen Kunstwerks. <lb n="pse_681.031"/>
In den Werten der Sprachen ruht es vor allem, wenn <lb n="pse_681.032"/>
gerade der Dichter als der Seher, der Verkünder gepriesen <lb n="pse_681.033"/>
wird und wirken kann. Das Verkündende ist keiner anderen <lb n="pse_681.034"/>
Kunst so gegeben wie der Dichtung, eben aus dem Wesen <lb n="pse_681.035"/>
der Sprache.</p>
            <p><lb n="pse_681.036"/>
3. Wir fragen endlich, wie diese Wirkung ausgelöst wird. <lb n="pse_681.037"/>
Das unmittelbar Gegebene ist die ganz persönliche Begegnung <lb n="pse_681.038"/>
des Einzelmenschen mit der Dichtung, das persönliche
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[681/0697] pse_681.001 kommt. Hier ist die Dichtung von den übrigen Künsten unterschieden. pse_681.002 Denn in ihr wirkt die Sprache, damit die Tatsache, pse_681.003 daß Sprache Sinngestaltung ist. Rationale Grundlagen, pse_681.004 verstehbare Zusammenhänge, Sinn sind damit von vornherein pse_681.005 in den wirkenden Raum der Dichtung einbezogen. pse_681.006 Dichtung schafft damit sofort eine Art Milieu, eine bestimmte pse_681.007 Welt, in die wir bei der Begegnung mit ihr eintreten. Und pse_681.008 zwar ist das eine Welt für sich, keine bloße Umformung und pse_681.009 Weiterbildung der tatsächlichen Welt; wir haben das bei der pse_681.010 Frage nach dem Wirklichkeitsbezug erläutert. Das Erlebte pse_681.011 wird als volle Wirklichkeit wirksam. Wir werden von der pse_681.012 Eigenart, der Struktur und der Gestimmtheit dieser dichterischen pse_681.013 Welt eingefangen, sie bestimmt uns in unserer augenblicklichen pse_681.014 Lage. Das ist der Untergrund, auf dem das eigentlich pse_681.015 Sagbare, der Inhalt, weiter der tiefere Gehalt wirken kann. pse_681.016 Dieses Sagbare, das man gröblich auf eine Art Lehrgehalt pse_681.017 abziehen könnte, verliert schon durch diese Einbettung in den pse_681.018 dichterischen Weltzusammenhang das Lehrhaft-Rationale. pse_681.019 Aus der Art der dichterischen Welt heraus werden dann auch pse_681.020 die dargestellten Menschen und Räume wirksam, die dichterische pse_681.021 Welt wird nach allen Richtungen, in vielen Ausgliederungen pse_681.022 lebendig und reich. In diesem Zusammenhang wirken pse_681.023 sich dann Tragik, Komik, Humor usw. aus. Aber all pse_681.024 das unterscheidet sich von der Wirkungsweise etwa eines pse_681.025 philosophisch aufgebauten und dargestellten Weltbildes durch pse_681.026 die Fundierung auf die dichterische Kunst. Vorab wirkt die pse_681.027 Sprache in der Entfaltung aller ihrer Werte des Stils, dann pse_681.028 die Durchführung des Aufbaus, der Zusammenhang der pse_681.029 Symbole, die Gestaltungsebenen und Gestaltungsformen, pse_681.030 kurzum die ganze Vielschichtigkeit des dichterischen Kunstwerks. pse_681.031 In den Werten der Sprachen ruht es vor allem, wenn pse_681.032 gerade der Dichter als der Seher, der Verkünder gepriesen pse_681.033 wird und wirken kann. Das Verkündende ist keiner anderen pse_681.034 Kunst so gegeben wie der Dichtung, eben aus dem Wesen pse_681.035 der Sprache. pse_681.036 3. Wir fragen endlich, wie diese Wirkung ausgelöst wird. pse_681.037 Das unmittelbar Gegebene ist die ganz persönliche Begegnung pse_681.038 des Einzelmenschen mit der Dichtung, das persönliche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/697
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 681. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/697>, abgerufen am 22.11.2024.