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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Sprache ist also nicht ein geregeltes Gebäude für pse_062.002
sich, sondern in ihm errichtet der Mensch eine geistige Zwischenwelt pse_062.003
(Weisgerber), die Ansichten und Ordnungen, in pse_062.004
denen er die ihm entgegentretende Welt (außersprachliche pse_062.005
Wirklichkeit) aufnimmt, ordnet und zur dauernden Verfügung pse_062.006
hält. Damit entsteht eine geistige Welt, durch die allein pse_062.007
der Mensch mit der außersprachlichen Wirklichkeit in Berührung pse_062.008
kommt, ein Gebilde, in dem sich außersprachliche pse_062.009
Wirklichkeit und menschliches Innenleben begegnen. Und pse_062.010
diese geistige Welt ist sprachlich geprägt. Die sprachliche pse_062.011
Wirklichkeit
ist bereits eine geistig geordnete und gefügte pse_062.012
Welt. Im Wort "Pupille" (das kleine Püppchen, das sich im pse_062.013
Auge spiegelt) sehen wir eine bestimmte menschliche Art, pse_062.014
dieses "Ding" der Außenwelt zu erfassen, ebenso im Rhythmus pse_062.015
der Sprache, in der Satzbewegung. So liegt in der sprachlich pse_062.016
geprägten geistigen Welt schon eine Art Kunstwerk vor: pse_062.017
ein Bild der außersprachlichen Wirklichkeit wird in den Gehalten pse_062.018
der Worte geformt, im Rhythmus, in den Wortfügungen pse_062.019
und Satzbewegungen spiegelt sich auch, wie wir pse_062.020
die Welt aufnehmen, erfassen, wie wir zu ihr stehen. Wir pse_062.021
wollen diese Tatsache, daß in der Sprache eine erste geistige pse_062.022
Formung der auf uns zuströmenden Welt geschieht, im pse_062.023
Auge behalten.

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Aber diese sprachliche Wirklichkeit ist nicht möglich ohne pse_062.025
die außersprachliche. Zum Worte "Hund" kommen wir nie, pse_062.026
ohne nicht einmal diese von jeder menschlichen Sprache pse_062.027
völlig unabhängige Realität wahrgenommen und erfaßt zu pse_062.028
haben usw. Alle Worte der Sprache und alle Sprachgebilde pse_062.029
stehen in einem ursprünglichen Bezug zur außersprachlichen pse_062.030
Wirklichkeit, denn in ihnen wird sie ja dem Menschen dauernd pse_062.031
zur Verfügung gestellt. Daher kommt es ja auch, daß pse_062.032
mit Sprachgebilden auf Außersprachliches hingewiesen wird. pse_062.033
Mit der Warnung "Hier steht ein Baumast vor" weise ich pse_062.034
energisch auf eine Realität hin. Der Hinweis hat nur Erfolg, pse_062.035
wenn der Hörer mich versteht, d. h. wenn er vor allem das pse_062.036
Wort "Baumast" von dem Zusammenhang lösen konnte, in pse_062.037
dem er es zum erstenmal erfuhr, wenn also mit ihm jederzeit pse_062.038
auf einen Baumast hingewiesen werden kann. In einer Erzählung

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Sprache ist also nicht ein geregeltes Gebäude für pse_062.002
sich, sondern in ihm errichtet der Mensch eine geistige Zwischenwelt pse_062.003
(Weisgerber), die Ansichten und Ordnungen, in pse_062.004
denen er die ihm entgegentretende Welt (außersprachliche pse_062.005
Wirklichkeit) aufnimmt, ordnet und zur dauernden Verfügung pse_062.006
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der Mensch mit der außersprachlichen Wirklichkeit in Berührung pse_062.008
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Wirklichkeit und menschliches Innenleben begegnen. Und pse_062.010
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Wirklichkeit
ist bereits eine geistig geordnete und gefügte pse_062.012
Welt. Im Wort »Pupille« (das kleine Püppchen, das sich im pse_062.013
Auge spiegelt) sehen wir eine bestimmte menschliche Art, pse_062.014
dieses »Ding« der Außenwelt zu erfassen, ebenso im Rhythmus pse_062.015
der Sprache, in der Satzbewegung. So liegt in der sprachlich pse_062.016
geprägten geistigen Welt schon eine Art Kunstwerk vor: pse_062.017
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und Satzbewegungen spiegelt sich auch, wie wir pse_062.020
die Welt aufnehmen, erfassen, wie wir zu ihr stehen. Wir pse_062.021
wollen diese Tatsache, daß in der Sprache eine erste geistige pse_062.022
Formung der auf uns zuströmenden Welt geschieht, im pse_062.023
Auge behalten.

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Aber diese sprachliche Wirklichkeit ist nicht möglich ohne pse_062.025
die außersprachliche. Zum Worte »Hund« kommen wir nie, pse_062.026
ohne nicht einmal diese von jeder menschlichen Sprache pse_062.027
völlig unabhängige Realität wahrgenommen und erfaßt zu pse_062.028
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Wirklichkeit, denn in ihnen wird sie ja dem Menschen dauernd pse_062.031
zur Verfügung gestellt. Daher kommt es ja auch, daß pse_062.032
mit Sprachgebilden auf Außersprachliches hingewiesen wird. pse_062.033
Mit der Warnung »Hier steht ein Baumast vor« weise ich pse_062.034
energisch auf eine Realität hin. Der Hinweis hat nur Erfolg, pse_062.035
wenn der Hörer mich versteht, d. h. wenn er vor allem das pse_062.036
Wort »Baumast« von dem Zusammenhang lösen konnte, in pse_062.037
dem er es zum erstenmal erfuhr, wenn also mit ihm jederzeit pse_062.038
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[62/0078] pse_062.001 Sprache ist also nicht ein geregeltes Gebäude für pse_062.002 sich, sondern in ihm errichtet der Mensch eine geistige Zwischenwelt pse_062.003 (Weisgerber), die Ansichten und Ordnungen, in pse_062.004 denen er die ihm entgegentretende Welt (außersprachliche pse_062.005 Wirklichkeit) aufnimmt, ordnet und zur dauernden Verfügung pse_062.006 hält. Damit entsteht eine geistige Welt, durch die allein pse_062.007 der Mensch mit der außersprachlichen Wirklichkeit in Berührung pse_062.008 kommt, ein Gebilde, in dem sich außersprachliche pse_062.009 Wirklichkeit und menschliches Innenleben begegnen. Und pse_062.010 diese geistige Welt ist sprachlich geprägt. Die sprachliche pse_062.011 Wirklichkeit ist bereits eine geistig geordnete und gefügte pse_062.012 Welt. Im Wort »Pupille« (das kleine Püppchen, das sich im pse_062.013 Auge spiegelt) sehen wir eine bestimmte menschliche Art, pse_062.014 dieses »Ding« der Außenwelt zu erfassen, ebenso im Rhythmus pse_062.015 der Sprache, in der Satzbewegung. So liegt in der sprachlich pse_062.016 geprägten geistigen Welt schon eine Art Kunstwerk vor: pse_062.017 ein Bild der außersprachlichen Wirklichkeit wird in den Gehalten pse_062.018 der Worte geformt, im Rhythmus, in den Wortfügungen pse_062.019 und Satzbewegungen spiegelt sich auch, wie wir pse_062.020 die Welt aufnehmen, erfassen, wie wir zu ihr stehen. Wir pse_062.021 wollen diese Tatsache, daß in der Sprache eine erste geistige pse_062.022 Formung der auf uns zuströmenden Welt geschieht, im pse_062.023 Auge behalten. pse_062.024 Aber diese sprachliche Wirklichkeit ist nicht möglich ohne pse_062.025 die außersprachliche. Zum Worte »Hund« kommen wir nie, pse_062.026 ohne nicht einmal diese von jeder menschlichen Sprache pse_062.027 völlig unabhängige Realität wahrgenommen und erfaßt zu pse_062.028 haben usw. Alle Worte der Sprache und alle Sprachgebilde pse_062.029 stehen in einem ursprünglichen Bezug zur außersprachlichen pse_062.030 Wirklichkeit, denn in ihnen wird sie ja dem Menschen dauernd pse_062.031 zur Verfügung gestellt. Daher kommt es ja auch, daß pse_062.032 mit Sprachgebilden auf Außersprachliches hingewiesen wird. pse_062.033 Mit der Warnung »Hier steht ein Baumast vor« weise ich pse_062.034 energisch auf eine Realität hin. Der Hinweis hat nur Erfolg, pse_062.035 wenn der Hörer mich versteht, d. h. wenn er vor allem das pse_062.036 Wort »Baumast« von dem Zusammenhang lösen konnte, in pse_062.037 dem er es zum erstenmal erfuhr, wenn also mit ihm jederzeit pse_062.038 auf einen Baumast hingewiesen werden kann. In einer Erzählung

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/78>, abgerufen am 24.11.2024.