pse_063.001 aber weist ein Satz "An dieser Stelle ragte ein Baumast pse_063.002 vor" auf keine außersprachliche Realität mehr hin, die im pse_063.003 Augenblick beachtet werden müßte. Ein Sprachwerk ist also pse_063.004 in seiner Ganzheit ein geistiges Gebilde für sich, eine sprachliche pse_063.005 Wirklichkeit, die allerdings eine außersprachliche Wirklichkeit, pse_063.006 wenigstens in den Elementen des Sprachwerks (den pse_063.007 einzelnen Worten etwa) zum Ausgang hatte; aber der Bezug pse_063.008 muß im Augenblick des Aufnehmens des Sprachwerks nicht pse_063.009 mehr nötig sein. Wie verwickelt die Lage ist, erkennt man pse_063.010 daran, daß ein Sprachwerk, also etwa ein Buch, das man pse_063.011 angreift, zerreißt, kauft, einbindet usw., wiederum eine außersprachliche pse_063.012 Wirklichkeit ist, die dann -- wie wir das im Augenblick pse_063.013 hier tun -- wieder sprachlich erfaßt werden kann.
pse_063.014 Außerdichterische und dichterische Wirklichkeit
pse_063.015 Die vorangegangenen Überlegungen erleichtern das Verständnis pse_063.016 der Beziehungen zwischen Dichtung und Wirklichkeit. pse_063.017 Es muß aber immer beachtet werden, daß Dichtung pse_063.018 Kunst durch Sprache und sprachliche Gestaltung an sich pse_063.019 schon geistige geformte Wirklichkeit ist. Ganz einfach erfassen pse_063.020 wir als außerdichterische Wirklichkeit all das, was jeweils pse_063.021 nicht in einer Dichtung gestaltet ist. Die historische pse_063.022 Gestalt Egmonts ist nicht eine Gestaltung durch Dichtung, pse_063.023 sie ist außerdichterisch. Aber Goethes Egmont ist eine durch pse_063.024 Dichtung geschaffene Gestalt, sie ist nicht mehr außerdichterische, pse_063.025 sondern dichterische Wirklichkeit. Das in einer Dichtung pse_063.026 Gestaltete ist also dichterische Wirklichkeit. Da aber pse_063.027 diese Gestaltung durch das Ganze der Dichtung, also nicht pse_063.028 bloß durch die Wortgehalte und Fügungen, nicht bloß pse_063.029 durch die Satzbewegungen und durch die Lautungen, sondern pse_063.030 auch durch das Verhältnis der Glieder, durch die inneren pse_063.031 Spannungen, durch das Hinstreben auf gewisse Punkte usw. pse_063.032 geformt wird, können wir jede konkrete Dichtung selbst als pse_063.033 dichterische Wirklichkeit bezeichnen. Freilich kann auch jede pse_063.034 solche Dichtung selbst wieder eine außersprachliche Wirklichkeit pse_063.035 sein, wenn wir an das Buch "Faust" als greifbaren
pse_063.001 aber weist ein Satz »An dieser Stelle ragte ein Baumast pse_063.002 vor« auf keine außersprachliche Realität mehr hin, die im pse_063.003 Augenblick beachtet werden müßte. Ein Sprachwerk ist also pse_063.004 in seiner Ganzheit ein geistiges Gebilde für sich, eine sprachliche pse_063.005 Wirklichkeit, die allerdings eine außersprachliche Wirklichkeit, pse_063.006 wenigstens in den Elementen des Sprachwerks (den pse_063.007 einzelnen Worten etwa) zum Ausgang hatte; aber der Bezug pse_063.008 muß im Augenblick des Aufnehmens des Sprachwerks nicht pse_063.009 mehr nötig sein. Wie verwickelt die Lage ist, erkennt man pse_063.010 daran, daß ein Sprachwerk, also etwa ein Buch, das man pse_063.011 angreift, zerreißt, kauft, einbindet usw., wiederum eine außersprachliche pse_063.012 Wirklichkeit ist, die dann — wie wir das im Augenblick pse_063.013 hier tun — wieder sprachlich erfaßt werden kann.
pse_063.014 Außerdichterische und dichterische Wirklichkeit
pse_063.015 Die vorangegangenen Überlegungen erleichtern das Verständnis pse_063.016 der Beziehungen zwischen Dichtung und Wirklichkeit. pse_063.017 Es muß aber immer beachtet werden, daß Dichtung pse_063.018 Kunst durch Sprache und sprachliche Gestaltung an sich pse_063.019 schon geistige geformte Wirklichkeit ist. Ganz einfach erfassen pse_063.020 wir als außerdichterische Wirklichkeit all das, was jeweils pse_063.021 nicht in einer Dichtung gestaltet ist. Die historische pse_063.022 Gestalt Egmonts ist nicht eine Gestaltung durch Dichtung, pse_063.023 sie ist außerdichterisch. Aber Goethes Egmont ist eine durch pse_063.024 Dichtung geschaffene Gestalt, sie ist nicht mehr außerdichterische, pse_063.025 sondern dichterische Wirklichkeit. Das in einer Dichtung pse_063.026 Gestaltete ist also dichterische Wirklichkeit. Da aber pse_063.027 diese Gestaltung durch das Ganze der Dichtung, also nicht pse_063.028 bloß durch die Wortgehalte und Fügungen, nicht bloß pse_063.029 durch die Satzbewegungen und durch die Lautungen, sondern pse_063.030 auch durch das Verhältnis der Glieder, durch die inneren pse_063.031 Spannungen, durch das Hinstreben auf gewisse Punkte usw. pse_063.032 geformt wird, können wir jede konkrete Dichtung selbst als pse_063.033 dichterische Wirklichkeit bezeichnen. Freilich kann auch jede pse_063.034 solche Dichtung selbst wieder eine außersprachliche Wirklichkeit pse_063.035 sein, wenn wir an das Buch »Faust« als greifbaren
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Wirklichkeit, die allerdings eine außersprachliche Wirklichkeit, pse_063.006
wenigstens in den Elementen des Sprachwerks (den pse_063.007
einzelnen Worten etwa) zum Ausgang hatte; aber der Bezug pse_063.008
muß im Augenblick des Aufnehmens des Sprachwerks nicht pse_063.009
mehr nötig sein. Wie verwickelt die Lage ist, erkennt man pse_063.010
daran, daß ein Sprachwerk, also etwa ein Buch, das man pse_063.011
angreift, zerreißt, kauft, einbindet usw., wiederum eine außersprachliche pse_063.012
Wirklichkeit ist, die dann — wie wir das im Augenblick pse_063.013
hier tun — wieder sprachlich erfaßt werden kann.
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Außerdichterische und dichterische Wirklichkeit pse_063.015
Die vorangegangenen Überlegungen erleichtern das Verständnis pse_063.016
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auch durch das Verhältnis der Glieder, durch die inneren pse_063.031
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/79>, abgerufen am 24.11.2024.
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