pse_068.001 einer ganz bestimmten Weltsicht heraus und mit Mitteln und pse_068.002 unter Gesetzen, die dem Kunstwerk, hier der Dichtung, pse_068.003 gemäß sind. Wir ziehen den Ausdruck Gestaltung vor: von pse_068.004 der außerdichterischen Wirklichkeit gebotener Stoff wird pse_068.005 zu einem Kunstwerk gestaltet, zu einer Dichtung, die nun pse_068.006 ihre eigene Welt ist.
pse_068.007 Aber wir müssen die Beziehung zwischen außerdichterischer pse_068.008 und dichterischer Wirklichkeit noch einen Augenblick pse_068.009 weiter verfolgen. Denn anscheinend gibt es da doch Unterschiede pse_068.010 in den Beziehungen. Man vergleiche etwa Storms pse_068.011 bekanntes Lied "Am grauen Strand, am grauen Meer" (Die pse_068.012 Stadt) mit dem Märchen vom Dornröschen. Sicher liegen pse_068.013 auch diesem Märchen außerdichterische Wirklichkeitselemente pse_068.014 zugrunde. Kaum ein Satz, kein Wort, das nicht einen pse_068.015 Bezug zu Stücken unserer Erfahrungswelt hätte. Und gerade pse_068.016 in den beim Erleben des Märchens mitklingenden Vergleichen pse_068.017 der dichterischen Welt mit unserer alltäglichen liegt pse_068.018 ein Reiz im Aufnehmen der Märchenwelt. Völlige Beziehungslosigkeit pse_068.019 ist schon der Sprache wegen unmöglich, und pse_068.020 etwa "sinnlose Worte" zu prägen, wäre das Ende der Sprache, pse_068.021 das wären ja gar keine Worte mehr. Und doch haben wir pse_068.022 den Eindruck, daß wir mit Storms Gedicht näher an einer pse_068.023 erlebten Außenwelt stehen als mit der Welt des Märchens. pse_068.024 Man hat neuerdings versucht, darauf eine Scheidung der pse_068.025 Dichtungsgattungen aufzubauen: in der einen handele es pse_068.026 sich um ganz persönliche Aussage, in der anderen um Fiktion. pse_068.027 Aber das Stormgedicht ist auch dann als Kunstwerk wirksam, pse_068.028 wenn wir das persönliche Erlebnis des Dichters (aber nicht pse_068.029 das Menschliche!) ausschalten. Es ersteht in diesen Versen eine pse_068.030 wunderbar geschlossene Welt, zwar kleinsten Maßes, aber pse_068.031 tiefster Eindruckskraft. Auch der lyrische Dichter (Goethe, pse_068.032 Mörike, Eichendorff) baut in seinen wenigen Versen eine pse_068.033 Welt auf, die als Dichtung in ihrer Geschlossenheit lebt. Daß pse_068.034 wir hier auch unmittelbar ein menschliches Herz schlagen pse_068.035 hören, ist allerdings wesentlich. Was in epischer und dramatischer pse_068.036 Dichtung als Welt ersteht, nennt man heute häufig pse_068.037 mit dem englischen Wort fiction. Mit Fiktion wird hier dann pse_068.038 eine besondere Art dichterischer Welt verstanden: eine Welt,
pse_068.001 einer ganz bestimmten Weltsicht heraus und mit Mitteln und pse_068.002 unter Gesetzen, die dem Kunstwerk, hier der Dichtung, pse_068.003 gemäß sind. Wir ziehen den Ausdruck Gestaltung vor: von pse_068.004 der außerdichterischen Wirklichkeit gebotener Stoff wird pse_068.005 zu einem Kunstwerk gestaltet, zu einer Dichtung, die nun pse_068.006 ihre eigene Welt ist.
pse_068.007 Aber wir müssen die Beziehung zwischen außerdichterischer pse_068.008 und dichterischer Wirklichkeit noch einen Augenblick pse_068.009 weiter verfolgen. Denn anscheinend gibt es da doch Unterschiede pse_068.010 in den Beziehungen. Man vergleiche etwa Storms pse_068.011 bekanntes Lied »Am grauen Strand, am grauen Meer« (Die pse_068.012 Stadt) mit dem Märchen vom Dornröschen. Sicher liegen pse_068.013 auch diesem Märchen außerdichterische Wirklichkeitselemente pse_068.014 zugrunde. Kaum ein Satz, kein Wort, das nicht einen pse_068.015 Bezug zu Stücken unserer Erfahrungswelt hätte. Und gerade pse_068.016 in den beim Erleben des Märchens mitklingenden Vergleichen pse_068.017 der dichterischen Welt mit unserer alltäglichen liegt pse_068.018 ein Reiz im Aufnehmen der Märchenwelt. Völlige Beziehungslosigkeit pse_068.019 ist schon der Sprache wegen unmöglich, und pse_068.020 etwa »sinnlose Worte« zu prägen, wäre das Ende der Sprache, pse_068.021 das wären ja gar keine Worte mehr. Und doch haben wir pse_068.022 den Eindruck, daß wir mit Storms Gedicht näher an einer pse_068.023 erlebten Außenwelt stehen als mit der Welt des Märchens. pse_068.024 Man hat neuerdings versucht, darauf eine Scheidung der pse_068.025 Dichtungsgattungen aufzubauen: in der einen handele es pse_068.026 sich um ganz persönliche Aussage, in der anderen um Fiktion. pse_068.027 Aber das Stormgedicht ist auch dann als Kunstwerk wirksam, pse_068.028 wenn wir das persönliche Erlebnis des Dichters (aber nicht pse_068.029 das Menschliche!) ausschalten. Es ersteht in diesen Versen eine pse_068.030 wunderbar geschlossene Welt, zwar kleinsten Maßes, aber pse_068.031 tiefster Eindruckskraft. Auch der lyrische Dichter (Goethe, pse_068.032 Mörike, Eichendorff) baut in seinen wenigen Versen eine pse_068.033 Welt auf, die als Dichtung in ihrer Geschlossenheit lebt. Daß pse_068.034 wir hier auch unmittelbar ein menschliches Herz schlagen pse_068.035 hören, ist allerdings wesentlich. Was in epischer und dramatischer pse_068.036 Dichtung als Welt ersteht, nennt man heute häufig pse_068.037 mit dem englischen Wort fiction. Mit Fiktion wird hier dann pse_068.038 eine besondere Art dichterischer Welt verstanden: eine Welt,
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einer ganz bestimmten Weltsicht heraus und mit Mitteln und pse_068.002
unter Gesetzen, die dem Kunstwerk, hier der Dichtung, pse_068.003
gemäß sind. Wir ziehen den Ausdruck Gestaltung vor: von pse_068.004
der außerdichterischen Wirklichkeit gebotener Stoff wird pse_068.005
zu einem Kunstwerk gestaltet, zu einer Dichtung, die nun pse_068.006
ihre eigene Welt ist.
pse_068.007
Aber wir müssen die Beziehung zwischen außerdichterischer pse_068.008
und dichterischer Wirklichkeit noch einen Augenblick pse_068.009
weiter verfolgen. Denn anscheinend gibt es da doch Unterschiede pse_068.010
in den Beziehungen. Man vergleiche etwa Storms pse_068.011
bekanntes Lied »Am grauen Strand, am grauen Meer« (Die pse_068.012
Stadt) mit dem Märchen vom Dornröschen. Sicher liegen pse_068.013
auch diesem Märchen außerdichterische Wirklichkeitselemente pse_068.014
zugrunde. Kaum ein Satz, kein Wort, das nicht einen pse_068.015
Bezug zu Stücken unserer Erfahrungswelt hätte. Und gerade pse_068.016
in den beim Erleben des Märchens mitklingenden Vergleichen pse_068.017
der dichterischen Welt mit unserer alltäglichen liegt pse_068.018
ein Reiz im Aufnehmen der Märchenwelt. Völlige Beziehungslosigkeit pse_068.019
ist schon der Sprache wegen unmöglich, und pse_068.020
etwa »sinnlose Worte« zu prägen, wäre das Ende der Sprache, pse_068.021
das wären ja gar keine Worte mehr. Und doch haben wir pse_068.022
den Eindruck, daß wir mit Storms Gedicht näher an einer pse_068.023
erlebten Außenwelt stehen als mit der Welt des Märchens. pse_068.024
Man hat neuerdings versucht, darauf eine Scheidung der pse_068.025
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sich um ganz persönliche Aussage, in der anderen um Fiktion. pse_068.027
Aber das Stormgedicht ist auch dann als Kunstwerk wirksam, pse_068.028
wenn wir das persönliche Erlebnis des Dichters (aber nicht pse_068.029
das Menschliche!) ausschalten. Es ersteht in diesen Versen eine pse_068.030
wunderbar geschlossene Welt, zwar kleinsten Maßes, aber pse_068.031
tiefster Eindruckskraft. Auch der lyrische Dichter (Goethe, pse_068.032
Mörike, Eichendorff) baut in seinen wenigen Versen eine pse_068.033
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wir hier auch unmittelbar ein menschliches Herz schlagen pse_068.035
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/84>, abgerufen am 24.11.2024.
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