hat, wir halten es aber für möglich, dass vielleicht gerade im Mai 1841 60 bis 80 erkrankte Wöchnerinnen ins Krankenhaus transferirt wurden. Wir leben jetzt im Jahre 1860, folglich sind es nicht mehr blos 3, sondern 13 Jahre, und das zufällige Aufhören der Sterblichkeit hat sich an mehreren Orten wiederholt.
"Mit der Theorie des Puerperalfiebers geht es wie mit allen Theorien, sagt Lumpe; z. B. die Physiker erklärten die Erscheinungen des Lichtes früher mit der Emanationstheorie, und jetzt mit der Vibrationstheorie, wer bürgt dafür, dass auch diese die richtige ist?" Das Licht thut, was es thun soll, un- bekümmert um die Erklärungen der Physiker, aber das Puer- peralfieber ist von der Erklärung der Aerzte sehr abhängig.
Dr. Lumpe erklärte sich die Entstehung des Puerperal- fiebers durch epidemische Einflüsse und schickte beinahe täg- lich eine todte Wöchnerin in die Leichenkammer; ich erklärte mir die Entstehung des Puerperalfiebers durch die Einbrin- gung zersetzter Stoffe von aussen, und habe im Jahre 1848 45 todte Wöchnerinnen in die Leichenkammer geschickt, und unter diesen 45 Wöchnerinnen beklage ich wenigstens 10, die noch hätten gerettet werden können, wenn ich nicht mit un- günstigen Verhältnissen hätte kämpfen müssen.
Wenn es sich bei gleichbleibender Sterblichkeit blos um eine andere Erklärung handeln würde, dann würde ich meine Zeit besser zu verwenden wissen, als mich mit den Irrthümern und dem bösen Willen meiner Gegner herumzubalgen.
Dr. Lumpe sagt: "Einen schlagenden Beweisgrund für seine Ansicht glaubt Semmelweis in dem Umstande zu sehen, dass auf der I. Klinik die Sterblichkeit auffallend grösser ist als auf der II., obwohl die Verhältnisse auf beiden gleich sind. Semmelweis ignorirt hier offenbar einen Umstand, der mir von hoher Wichtigkeit scheint. Es ist folgender: Da auf der I. Klinik durch 4 Tage der Woche, und zwar zweimal aufein- anderfolgend, auf der II. nur durch 3 Tage die Aufnahme statt- findet, so ist eine vollkommene Lüftung der Wochenzimmer
hat, wir halten es aber für möglich, dass vielleicht gerade im Mai 1841 60 bis 80 erkrankte Wöchnerinnen ins Krankenhaus transferirt wurden. Wir leben jetzt im Jahre 1860, folglich sind es nicht mehr blos 3, sondern 13 Jahre, und das zufällige Aufhören der Sterblichkeit hat sich an mehreren Orten wiederholt.
»Mit der Theorie des Puerperalfiebers geht es wie mit allen Theorien, sagt Lumpe; z. B. die Physiker erklärten die Erscheinungen des Lichtes früher mit der Emanationstheorie, und jetzt mit der Vibrationstheorie, wer bürgt dafür, dass auch diese die richtige ist?« Das Licht thut, was es thun soll, un- bekümmert um die Erklärungen der Physiker, aber das Puer- peralfieber ist von der Erklärung der Aerzte sehr abhängig.
Dr. Lumpe erklärte sich die Entstehung des Puerperal- fiebers durch epidemische Einflüsse und schickte beinahe täg- lich eine todte Wöchnerin in die Leichenkammer; ich erklärte mir die Entstehung des Puerperalfiebers durch die Einbrin- gung zersetzter Stoffe von aussen, und habe im Jahre 1848 45 todte Wöchnerinnen in die Leichenkammer geschickt, und unter diesen 45 Wöchnerinnen beklage ich wenigstens 10, die noch hätten gerettet werden können, wenn ich nicht mit un- günstigen Verhältnissen hätte kämpfen müssen.
Wenn es sich bei gleichbleibender Sterblichkeit blos um eine andere Erklärung handeln würde, dann würde ich meine Zeit besser zu verwenden wissen, als mich mit den Irrthümern und dem bösen Willen meiner Gegner herumzubalgen.
Dr. Lumpe sagt: »Einen schlagenden Beweisgrund für seine Ansicht glaubt Semmelweis in dem Umstande zu sehen, dass auf der I. Klinik die Sterblichkeit auffallend grösser ist als auf der II., obwohl die Verhältnisse auf beiden gleich sind. Semmelweis ignorirt hier offenbar einen Umstand, der mir von hoher Wichtigkeit scheint. Es ist folgender: Da auf der I. Klinik durch 4 Tage der Woche, und zwar zweimal aufein- anderfolgend, auf der II. nur durch 3 Tage die Aufnahme statt- findet, so ist eine vollkommene Lüftung der Wochenzimmer
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hat, wir halten es aber für möglich, dass vielleicht gerade im
Mai 1841 60 bis 80 erkrankte Wöchnerinnen ins Krankenhaus
transferirt wurden. Wir leben jetzt im Jahre 1860, folglich
sind es nicht mehr blos 3, sondern 13 Jahre, und das zufällige
Aufhören der Sterblichkeit hat sich an mehreren Orten
wiederholt.
»Mit der Theorie des Puerperalfiebers geht es wie mit
allen Theorien, sagt Lumpe; z. B. die Physiker erklärten die
Erscheinungen des Lichtes früher mit der Emanationstheorie,
und jetzt mit der Vibrationstheorie, wer bürgt dafür, dass auch
diese die richtige ist?« Das Licht thut, was es thun soll, un-
bekümmert um die Erklärungen der Physiker, aber das Puer-
peralfieber ist von der Erklärung der Aerzte sehr abhängig.
Dr. Lumpe erklärte sich die Entstehung des Puerperal-
fiebers durch epidemische Einflüsse und schickte beinahe täg-
lich eine todte Wöchnerin in die Leichenkammer; ich erklärte
mir die Entstehung des Puerperalfiebers durch die Einbrin-
gung zersetzter Stoffe von aussen, und habe im Jahre 1848
45 todte Wöchnerinnen in die Leichenkammer geschickt, und
unter diesen 45 Wöchnerinnen beklage ich wenigstens 10, die
noch hätten gerettet werden können, wenn ich nicht mit un-
günstigen Verhältnissen hätte kämpfen müssen.
Wenn es sich bei gleichbleibender Sterblichkeit blos um
eine andere Erklärung handeln würde, dann würde ich meine
Zeit besser zu verwenden wissen, als mich mit den Irrthümern
und dem bösen Willen meiner Gegner herumzubalgen.
Dr. Lumpe sagt: »Einen schlagenden Beweisgrund für
seine Ansicht glaubt Semmelweis in dem Umstande zu sehen,
dass auf der I. Klinik die Sterblichkeit auffallend grösser ist
als auf der II., obwohl die Verhältnisse auf beiden gleich sind.
Semmelweis ignorirt hier offenbar einen Umstand, der mir von
hoher Wichtigkeit scheint. Es ist folgender: Da auf der
I. Klinik durch 4 Tage der Woche, und zwar zweimal aufein-
anderfolgend, auf der II. nur durch 3 Tage die Aufnahme statt-
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Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861, S. 450. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/semmelweis_kindbettfieber_1861/462>, abgerufen am 22.11.2024.
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