andere Zustände, weil bei ihnen das disponirende Moment, nämlich das Wochenbett, fehlt.
Das weibliche Schamgefühl wird nicht nur dadurch ver- letzt, dass sich die Individuen dem öffentlichen Unterrichte für Männer preisgeben müssen, wodurch selbe, weil sie durch das Puerperium dazu disponirt sind, das Kindbettfieber bekom- men. Das weibliche Schamgefühl wird noch auf andere viel- fältige Weise verletzt, wenn aber die so verletzten Jungfrauen überhaupt nicht im Puerperium befindliche Individuen sind, so bekommen selbe nicht das Kindbettfieber, weil das dispo- nirende Moment fehlt, sondern mannigfaltige andere Zu- stände, z. B. Ohnmachten, etc. etc. Verkühlung bringt bei einer Wöchnerin das Kindbettfieber hervor, bei einer Nicht- wöchnerin ein rheumatisches Fieber. Diätfehler bringen bei einer Wöchnerin das Kindbettfieber hervor, bei einer Nicht- wöchnerin aber ein gastrisches Fieber.
Da man sich aber überzeugte, dass das Kindbettfieber nicht blos im Puerperio, sondern schon während der Geburt, ja sogar während der Schwangerschaft beginne, so liess man das Puerperium fallen, und begnügte sich mit der eigenthüm- lichen Blutmischung der Schwangeren; wenn wir aber diese Definition auf das Kindbettfieber der Neugebornen anwenden, wo finden wir das disponirende Moment zu den Puerperalpro- zessen bei den Neugebornen? In dem Puerperalzustande ihrer Genitalien? Oder haben sie eine den Schwangern eigenthüm- liche Blutmischung? und zwar ohne Unterschied ob es Mäd- chen oder Knaben sind. Selbst der Begriff des Puerperalfie- bers zeigte sich durch das Factum, dass das Kindbettfieber auch bei Neugebornen vorkomme, als ein irriger.
Bei der grossen Ausbreitung der Stadt Wien ereignete es sich sehr oft, dass Kreissende auf dem Wege ins Gebär- haus, bevor sie das Gebärhaus erreichten, auf der Gasse, auf dem Glacis, unter den Thoren der Häuser, wo sie der Zufall eben hinbrachte, entbanden, und dann nach der Geburt mit
andere Zustände, weil bei ihnen das disponirende Moment, nämlich das Wochenbett, fehlt.
Das weibliche Schamgefühl wird nicht nur dadurch ver- letzt, dass sich die Individuen dem öffentlichen Unterrichte für Männer preisgeben müssen, wodurch selbe, weil sie durch das Puerperium dazu disponirt sind, das Kindbettfieber bekom- men. Das weibliche Schamgefühl wird noch auf andere viel- fältige Weise verletzt, wenn aber die so verletzten Jungfrauen überhaupt nicht im Puerperium befindliche Individuen sind, so bekommen selbe nicht das Kindbettfieber, weil das dispo- nirende Moment fehlt, sondern mannigfaltige andere Zu- stände, z. B. Ohnmachten, etc. etc. Verkühlung bringt bei einer Wöchnerin das Kindbettfieber hervor, bei einer Nicht- wöchnerin ein rheumatisches Fieber. Diätfehler bringen bei einer Wöchnerin das Kindbettfieber hervor, bei einer Nicht- wöchnerin aber ein gastrisches Fieber.
Da man sich aber überzeugte, dass das Kindbettfieber nicht blos im Puerperio, sondern schon während der Geburt, ja sogar während der Schwangerschaft beginne, so liess man das Puerperium fallen, und begnügte sich mit der eigenthüm- lichen Blutmischung der Schwangeren; wenn wir aber diese Definition auf das Kindbettfieber der Neugebornen anwenden, wo finden wir das disponirende Moment zu den Puerperalpro- zessen bei den Neugebornen? In dem Puerperalzustande ihrer Genitalien? Oder haben sie eine den Schwangern eigenthüm- liche Blutmischung? und zwar ohne Unterschied ob es Mäd- chen oder Knaben sind. Selbst der Begriff des Puerperalfie- bers zeigte sich durch das Factum, dass das Kindbettfieber auch bei Neugebornen vorkomme, als ein irriger.
Bei der grossen Ausbreitung der Stadt Wien ereignete es sich sehr oft, dass Kreissende auf dem Wege ins Gebär- haus, bevor sie das Gebärhaus erreichten, auf der Gasse, auf dem Glacis, unter den Thoren der Häuser, wo sie der Zufall eben hinbrachte, entbanden, und dann nach der Geburt mit
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[43/0055]
andere Zustände, weil bei ihnen das disponirende Moment,
nämlich das Wochenbett, fehlt.
Das weibliche Schamgefühl wird nicht nur dadurch ver-
letzt, dass sich die Individuen dem öffentlichen Unterrichte
für Männer preisgeben müssen, wodurch selbe, weil sie durch
das Puerperium dazu disponirt sind, das Kindbettfieber bekom-
men. Das weibliche Schamgefühl wird noch auf andere viel-
fältige Weise verletzt, wenn aber die so verletzten Jungfrauen
überhaupt nicht im Puerperium befindliche Individuen sind,
so bekommen selbe nicht das Kindbettfieber, weil das dispo-
nirende Moment fehlt, sondern mannigfaltige andere Zu-
stände, z. B. Ohnmachten, etc. etc. Verkühlung bringt bei
einer Wöchnerin das Kindbettfieber hervor, bei einer Nicht-
wöchnerin ein rheumatisches Fieber. Diätfehler bringen bei
einer Wöchnerin das Kindbettfieber hervor, bei einer Nicht-
wöchnerin aber ein gastrisches Fieber.
Da man sich aber überzeugte, dass das Kindbettfieber
nicht blos im Puerperio, sondern schon während der Geburt,
ja sogar während der Schwangerschaft beginne, so liess man
das Puerperium fallen, und begnügte sich mit der eigenthüm-
lichen Blutmischung der Schwangeren; wenn wir aber diese
Definition auf das Kindbettfieber der Neugebornen anwenden,
wo finden wir das disponirende Moment zu den Puerperalpro-
zessen bei den Neugebornen? In dem Puerperalzustande ihrer
Genitalien? Oder haben sie eine den Schwangern eigenthüm-
liche Blutmischung? und zwar ohne Unterschied ob es Mäd-
chen oder Knaben sind. Selbst der Begriff des Puerperalfie-
bers zeigte sich durch das Factum, dass das Kindbettfieber
auch bei Neugebornen vorkomme, als ein irriger.
Bei der grossen Ausbreitung der Stadt Wien ereignete
es sich sehr oft, dass Kreissende auf dem Wege ins Gebär-
haus, bevor sie das Gebärhaus erreichten, auf der Gasse, auf
dem Glacis, unter den Thoren der Häuser, wo sie der Zufall
eben hinbrachte, entbanden, und dann nach der Geburt mit
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Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/semmelweis_kindbettfieber_1861/55>, abgerufen am 21.11.2024.
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