dem Säugling in der Schürze oft bei der ungünstigsten Wit- terung ins Gebärhaus gehen mussten. Diese Geburten werden Gassengeburten genannt. Die Aufnahme in das Gebärhaus und die Uebernahme des Neugebornen im Findelhause ge- schieht gratis unter der Bedingung, dass sich die Kreissenden dem öffentlichen Unterrichte preisgeben, und die welche taug- lich sind, müssen im Findelhause Ammendienst thun. Nicht im Gebärhause geborene Kinder werden im Findelhause gra- tis nicht aufgenommen, weil deren Mütter dem Unterrichte nicht gedient haben. Damit aber diejenigen, welche in der Absicht, im Gebärhause zu entbinden, sich dorthin begeben, und auf dem Wege dahin dasselbe vor der Geburt nicht mehr erreichen können, nicht unschuldiger Weise dieser Vortheile verlustig werden, so lässt man die Gassengeburten als solche gelten, welche im Gebärhause vorsichgehen. Das hat aber zu dem Missbrauche geführt, dass die etwas wohlhabenderen Mädchen, um der Unannehmlichkeit des öffentlichen Unter- richtes zu entgehen, und um dennoch der Wohlthat der un- entgeltlichen Uebergabe des Kindes in das Findelhaus theil- haftig zu werden, in der Stadt bei den Hebammen entbinden, und sich dann mittelst Kutschen in das Gebärhaus bringen lassen, mit der Angabe, sie seien auf dem Wege von der Ge- burt überrascht worden. Wenn das Kind nicht getauft, und der Nabelschnurrest ganz frisch ist, so wird eine solche Ge- burt als Gassengeburt betrachtet und die Mutter wird aller Wohlthaten theilhaftig, deren sich alle diejenigen erfreuen, welche im Gebärhause geboren. Die Zahl der letzteren ist die höhere, und übersteigt monatlich an beiden Kliniken nicht selten die Zahl von 100.
Ich habe bemerkt, dass nun gerade die Wöchnerinnen, welche eine Gassengeburt überstanden hatten, auffallend sel- tener erkrankten als diejenigen, welche im Gebärhause gebo- ren hatten, obwohl bei den Gassengeburten die Geburt offen- bar unter ungünstigeren Verhältnissen vorsichging, als bei denjenigen, welche bei uns auf dem Kreissebette geboren.
dem Säugling in der Schürze oft bei der ungünstigsten Wit- terung ins Gebärhaus gehen mussten. Diese Geburten werden Gassengeburten genannt. Die Aufnahme in das Gebärhaus und die Uebernahme des Neugebornen im Findelhause ge- schieht gratis unter der Bedingung, dass sich die Kreissenden dem öffentlichen Unterrichte preisgeben, und die welche taug- lich sind, müssen im Findelhause Ammendienst thun. Nicht im Gebärhause geborene Kinder werden im Findelhause gra- tis nicht aufgenommen, weil deren Mütter dem Unterrichte nicht gedient haben. Damit aber diejenigen, welche in der Absicht, im Gebärhause zu entbinden, sich dorthin begeben, und auf dem Wege dahin dasselbe vor der Geburt nicht mehr erreichen können, nicht unschuldiger Weise dieser Vortheile verlustig werden, so lässt man die Gassengeburten als solche gelten, welche im Gebärhause vorsichgehen. Das hat aber zu dem Missbrauche geführt, dass die etwas wohlhabenderen Mädchen, um der Unannehmlichkeit des öffentlichen Unter- richtes zu entgehen, und um dennoch der Wohlthat der un- entgeltlichen Uebergabe des Kindes in das Findelhaus theil- haftig zu werden, in der Stadt bei den Hebammen entbinden, und sich dann mittelst Kutschen in das Gebärhaus bringen lassen, mit der Angabe, sie seien auf dem Wege von der Ge- burt überrascht worden. Wenn das Kind nicht getauft, und der Nabelschnurrest ganz frisch ist, so wird eine solche Ge- burt als Gassengeburt betrachtet und die Mutter wird aller Wohlthaten theilhaftig, deren sich alle diejenigen erfreuen, welche im Gebärhause geboren. Die Zahl der letzteren ist die höhere, und übersteigt monatlich an beiden Kliniken nicht selten die Zahl von 100.
Ich habe bemerkt, dass nun gerade die Wöchnerinnen, welche eine Gassengeburt überstanden hatten, auffallend sel- tener erkrankten als diejenigen, welche im Gebärhause gebo- ren hatten, obwohl bei den Gassengeburten die Geburt offen- bar unter ungünstigeren Verhältnissen vorsichging, als bei denjenigen, welche bei uns auf dem Kreissebette geboren.
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dem Säugling in der Schürze oft bei der ungünstigsten Wit-
terung ins Gebärhaus gehen mussten. Diese Geburten werden
Gassengeburten genannt. Die Aufnahme in das Gebärhaus
und die Uebernahme des Neugebornen im Findelhause ge-
schieht gratis unter der Bedingung, dass sich die Kreissenden
dem öffentlichen Unterrichte preisgeben, und die welche taug-
lich sind, müssen im Findelhause Ammendienst thun. Nicht
im Gebärhause geborene Kinder werden im Findelhause gra-
tis nicht aufgenommen, weil deren Mütter dem Unterrichte
nicht gedient haben. Damit aber diejenigen, welche in der
Absicht, im Gebärhause zu entbinden, sich dorthin begeben,
und auf dem Wege dahin dasselbe vor der Geburt nicht mehr
erreichen können, nicht unschuldiger Weise dieser Vortheile
verlustig werden, so lässt man die Gassengeburten als solche
gelten, welche im Gebärhause vorsichgehen. Das hat aber
zu dem Missbrauche geführt, dass die etwas wohlhabenderen
Mädchen, um der Unannehmlichkeit des öffentlichen Unter-
richtes zu entgehen, und um dennoch der Wohlthat der un-
entgeltlichen Uebergabe des Kindes in das Findelhaus theil-
haftig zu werden, in der Stadt bei den Hebammen entbinden,
und sich dann mittelst Kutschen in das Gebärhaus bringen
lassen, mit der Angabe, sie seien auf dem Wege von der Ge-
burt überrascht worden. Wenn das Kind nicht getauft, und
der Nabelschnurrest ganz frisch ist, so wird eine solche Ge-
burt als Gassengeburt betrachtet und die Mutter wird aller
Wohlthaten theilhaftig, deren sich alle diejenigen erfreuen,
welche im Gebärhause geboren. Die Zahl der letzteren ist die
höhere, und übersteigt monatlich an beiden Kliniken nicht
selten die Zahl von 100.
Ich habe bemerkt, dass nun gerade die Wöchnerinnen,
welche eine Gassengeburt überstanden hatten, auffallend sel-
tener erkrankten als diejenigen, welche im Gebärhause gebo-
ren hatten, obwohl bei den Gassengeburten die Geburt offen-
bar unter ungünstigeren Verhältnissen vorsichging, als bei
denjenigen, welche bei uns auf dem Kreissebette geboren.
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Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/semmelweis_kindbettfieber_1861/56>, abgerufen am 21.11.2024.
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