Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

zu ernsthaft. Das arme artige Geschöpfchen dauert
mich, sagte der Graf; aber der Franzose konnte doch
seinen Charakter nicht ganz verläugnen. Je voudrais
pourtant la voir toute entiere
, sagte er, und machte
ihr den Vorschlag und bot viel dafür. Das Mädchen
War verlegen und bekannte, dass sie für einen Duka¬
ten in der letzten Instanz gefällig seyn würde; aber
zur Schau wollte sie sich nicht verstehen. Mein Ka¬
merad verstand seine Logik, brachte mit feiner Schmei¬
cheley ihre Eitelkeit ins Spiel, und sie gab endlich für
die doppelte Summe mit einigem Widerwillen ihr
Modell. Sobald die letzte Falte fiel, warf sie sich in
die nehmliche Stellung. Voila la coquine de Medicis!
sagte der Graf. Es war ein gemeines pohlnisches
Mädchen mit den Geschenken der Natur, die für ih¬
ren Hetärensold sich etwas reitzend gekleidet hatte;
eine Wissenschaft, in der die Pohlinnen vielleicht den
Pariserinnen noch Unterricht geben könnten. Allemal
ist mir bey einem Bild der Aphrodite Medicis die Poh¬
lin eingefallen und meine Konjunktur kam zurück;
und mancher Künstler war nicht übel Willens meiner
Meinung beyzutreten. Urania könnte in der Glorie
ihrer hohen siegenden Unschuld keinen Gedanken an
diese Kleinigkeit haben, die nur ein Satyr bemerken
könnte. Ihr Postament war jetzt hier leer.

Es ist vielleicht doch auch jetzt noch keine un¬
nütze Frage, ob Moralität und reiner Geschmack nicht
leidet durch die Aufstellung des ganz Nackten an öf¬
fentlichen Orten. Der Künstler mag es zu seiner Vol¬
lendung brauchen, muss es brauchen: aber mich
däucht, dass Sokrates sodann seine Grazien mit Recht

zu ernsthaft. Das arme artige Geschöpfchen dauert
mich, sagte der Graf; aber der Franzose konnte doch
seinen Charakter nicht ganz verläugnen. Je voudrais
pourtant la voir toute entiere
, sagte er, und machte
ihr den Vorschlag und bot viel dafür. Das Mädchen
War verlegen und bekannte, daſs sie für einen Duka¬
ten in der letzten Instanz gefällig seyn würde; aber
zur Schau wollte sie sich nicht verstehen. Mein Ka¬
merad verstand seine Logik, brachte mit feiner Schmei¬
cheley ihre Eitelkeit ins Spiel, und sie gab endlich für
die doppelte Summe mit einigem Widerwillen ihr
Modell. Sobald die letzte Falte fiel, warf sie sich in
die nehmliche Stellung. Voilà la coquine de Medicis!
sagte der Graf. Es war ein gemeines pohlnisches
Mädchen mit den Geschenken der Natur, die für ih¬
ren Hetärensold sich etwas reitzend gekleidet hatte;
eine Wissenschaft, in der die Pohlinnen vielleicht den
Pariserinnen noch Unterricht geben könnten. Allemal
ist mir bey einem Bild der Aphrodite Medicis die Poh¬
lin eingefallen und meine Konjunktur kam zurück;
und mancher Künstler war nicht übel Willens meiner
Meinung beyzutreten. Urania könnte in der Glorie
ihrer hohen siegenden Unschuld keinen Gedanken an
diese Kleinigkeit haben, die nur ein Satyr bemerken
könnte. Ihr Postament war jetzt hier leer.

Es ist vielleicht doch auch jetzt noch keine un¬
nütze Frage, ob Moralität und reiner Geschmack nicht
leidet durch die Aufstellung des ganz Nackten an öf¬
fentlichen Orten. Der Künstler mag es zu seiner Vol¬
lendung brauchen, muſs es brauchen: aber mich
däucht, daſs Sokrates sodann seine Grazien mit Recht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0419" n="391 "/>
zu ernsthaft. Das arme artige Geschöpfchen dauert<lb/>
mich, sagte der Graf; aber der Franzose konnte doch<lb/>
seinen Charakter nicht ganz verläugnen. <hi rendition="#i">Je voudrais<lb/>
pourtant la voir toute entiere</hi>, sagte er, und machte<lb/>
ihr den Vorschlag und bot viel dafür. Das Mädchen<lb/>
War verlegen und bekannte, da&#x017F;s sie für einen Duka¬<lb/>
ten in der letzten Instanz gefällig seyn würde; aber<lb/>
zur Schau wollte sie sich nicht verstehen. Mein Ka¬<lb/>
merad verstand seine Logik, brachte mit feiner Schmei¬<lb/>
cheley ihre Eitelkeit ins Spiel, und sie gab endlich für<lb/>
die doppelte Summe mit einigem Widerwillen ihr<lb/>
Modell. Sobald die letzte Falte fiel, warf sie sich in<lb/>
die nehmliche Stellung. <hi rendition="#i">Voilà la coquine de Medicis</hi>!<lb/>
sagte der Graf. Es war ein gemeines pohlnisches<lb/>
Mädchen mit den Geschenken der Natur, die für ih¬<lb/>
ren Hetärensold sich etwas reitzend gekleidet hatte;<lb/>
eine Wissenschaft, in der die Pohlinnen vielleicht den<lb/>
Pariserinnen noch Unterricht geben könnten. Allemal<lb/>
ist mir bey einem Bild der Aphrodite Medicis die Poh¬<lb/>
lin eingefallen und meine Konjunktur kam zurück;<lb/>
und mancher Künstler war nicht übel Willens meiner<lb/>
Meinung beyzutreten. Urania könnte in der Glorie<lb/>
ihrer hohen siegenden Unschuld keinen Gedanken an<lb/>
diese Kleinigkeit haben, die nur ein Satyr bemerken<lb/>
könnte. Ihr Postament war jetzt hier leer.</p><lb/>
        <p>Es ist vielleicht doch auch jetzt noch keine un¬<lb/>
nütze Frage, ob Moralität und reiner Geschmack nicht<lb/>
leidet durch die Aufstellung des ganz Nackten an öf¬<lb/>
fentlichen Orten. Der Künstler mag es zu seiner Vol¬<lb/>
lendung brauchen, mu&#x017F;s es brauchen: aber mich<lb/>
däucht, da&#x017F;s Sokrates sodann seine Grazien mit Recht<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[391 /0419] zu ernsthaft. Das arme artige Geschöpfchen dauert mich, sagte der Graf; aber der Franzose konnte doch seinen Charakter nicht ganz verläugnen. Je voudrais pourtant la voir toute entiere, sagte er, und machte ihr den Vorschlag und bot viel dafür. Das Mädchen War verlegen und bekannte, daſs sie für einen Duka¬ ten in der letzten Instanz gefällig seyn würde; aber zur Schau wollte sie sich nicht verstehen. Mein Ka¬ merad verstand seine Logik, brachte mit feiner Schmei¬ cheley ihre Eitelkeit ins Spiel, und sie gab endlich für die doppelte Summe mit einigem Widerwillen ihr Modell. Sobald die letzte Falte fiel, warf sie sich in die nehmliche Stellung. Voilà la coquine de Medicis! sagte der Graf. Es war ein gemeines pohlnisches Mädchen mit den Geschenken der Natur, die für ih¬ ren Hetärensold sich etwas reitzend gekleidet hatte; eine Wissenschaft, in der die Pohlinnen vielleicht den Pariserinnen noch Unterricht geben könnten. Allemal ist mir bey einem Bild der Aphrodite Medicis die Poh¬ lin eingefallen und meine Konjunktur kam zurück; und mancher Künstler war nicht übel Willens meiner Meinung beyzutreten. Urania könnte in der Glorie ihrer hohen siegenden Unschuld keinen Gedanken an diese Kleinigkeit haben, die nur ein Satyr bemerken könnte. Ihr Postament war jetzt hier leer. Es ist vielleicht doch auch jetzt noch keine un¬ nütze Frage, ob Moralität und reiner Geschmack nicht leidet durch die Aufstellung des ganz Nackten an öf¬ fentlichen Orten. Der Künstler mag es zu seiner Vol¬ lendung brauchen, muſs es brauchen: aber mich däucht, daſs Sokrates sodann seine Grazien mit Recht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/419
Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 391 . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/419>, abgerufen am 22.11.2024.