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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

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über lag am Abhange ein Kloster, und hinter demsel¬
ben erhob sich eine furchtbar hohe Alpe in schroffen
Felsenmassen, deren Scheitel jetzt fast zu Johannis mit
Schnee bedeckt war. Die Bewirthung war besser, als
ich sie in diesen Klüften erwartet hätte; vorzüglich
waren die Forellen aus dem Ticin köstlich. Die Leute
schienen viel ursprüngliche Güte zu haben. Mein gröss¬
ter Genuss waren hier die Alpenquellen, vor denen
ich selten vorbey ging ohne zu ruhen und zu trinken,
wenn auch beydes eben nicht nöthig war, und in den
Schluchten um mich her zu blicken, und vorwärts
und rückwärts die Gegenstände fest zu halten. Jetzt
schmolz eben der Schnee auf den Höhen der Berge,
und oft hatte ich vier bis sechs Wasserfälle vor den
Augen, die sich von den nackten Häuptern der Alpen
in hundert Brechungen herab stürzten, und von de¬
nen der kleinste doch eine sehr starke Wassersäule
gab. Der Ticin macht auf dieser Seite schönere Par¬
thien als die Reuss auf der deutschen; und nichts
muss überraschender seyn, als hier hinauf und dort
hinunter zu steigen. Ayrolles war mein zweytes
Nachtlager. Hier sprach man im Hause deutsch, italiä¬
nisch und französisch fast gleich fertig, und der Wirth
machte mit seiner Familie einen sehr artigen Zirkel,
in dem ich sogleich heimisch war. Suworow hatte
einige Zeit bey ihm gestanden, und wir hatten beyde
einen Berührungspunkt. Er war ganz voll Enthusias¬
mus für den alten General, und rühmte vorzüglich
seine Freundlichkeit und Humanität, welches vielleicht
vielen etwas sonderbar und verdächtig vorkommen
wird. Aber ich sehe nicht ein, was den Wirth in

über lag am Abhange ein Kloster, und hinter demsel¬
ben erhob sich eine furchtbar hohe Alpe in schroffen
Felsenmassen, deren Scheitel jetzt fast zu Johannis mit
Schnee bedeckt war. Die Bewirthung war besser, als
ich sie in diesen Klüften erwartet hätte; vorzüglich
waren die Forellen aus dem Ticin köstlich. Die Leute
schienen viel ursprüngliche Güte zu haben. Mein gröſs¬
ter Genuſs waren hier die Alpenquellen, vor denen
ich selten vorbey ging ohne zu ruhen und zu trinken,
wenn auch beydes eben nicht nöthig war, und in den
Schluchten um mich her zu blicken, und vorwärts
und rückwärts die Gegenstände fest zu halten. Jetzt
schmolz eben der Schnee auf den Höhen der Berge,
und oft hatte ich vier bis sechs Wasserfälle vor den
Augen, die sich von den nackten Häuptern der Alpen
in hundert Brechungen herab stürzten, und von de¬
nen der kleinste doch eine sehr starke Wassersäule
gab. Der Ticin macht auf dieser Seite schönere Par¬
thien als die Reuſs auf der deutschen; und nichts
muſs überraschender seyn, als hier hinauf und dort
hinunter zu steigen. Ayrolles war mein zweytes
Nachtlager. Hier sprach man im Hause deutsch, italiä¬
nisch und französisch fast gleich fertig, und der Wirth
machte mit seiner Familie einen sehr artigen Zirkel,
in dem ich sogleich heimisch war. Suworow hatte
einige Zeit bey ihm gestanden, und wir hatten beyde
einen Berührungspunkt. Er war ganz voll Enthusias¬
mus für den alten General, und rühmte vorzüglich
seine Freundlichkeit und Humanität, welches vielleicht
vielen etwas sonderbar und verdächtig vorkommen
wird. Aber ich sehe nicht ein, was den Wirth in

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[414 /0442] über lag am Abhange ein Kloster, und hinter demsel¬ ben erhob sich eine furchtbar hohe Alpe in schroffen Felsenmassen, deren Scheitel jetzt fast zu Johannis mit Schnee bedeckt war. Die Bewirthung war besser, als ich sie in diesen Klüften erwartet hätte; vorzüglich waren die Forellen aus dem Ticin köstlich. Die Leute schienen viel ursprüngliche Güte zu haben. Mein gröſs¬ ter Genuſs waren hier die Alpenquellen, vor denen ich selten vorbey ging ohne zu ruhen und zu trinken, wenn auch beydes eben nicht nöthig war, und in den Schluchten um mich her zu blicken, und vorwärts und rückwärts die Gegenstände fest zu halten. Jetzt schmolz eben der Schnee auf den Höhen der Berge, und oft hatte ich vier bis sechs Wasserfälle vor den Augen, die sich von den nackten Häuptern der Alpen in hundert Brechungen herab stürzten, und von de¬ nen der kleinste doch eine sehr starke Wassersäule gab. Der Ticin macht auf dieser Seite schönere Par¬ thien als die Reuſs auf der deutschen; und nichts muſs überraschender seyn, als hier hinauf und dort hinunter zu steigen. Ayrolles war mein zweytes Nachtlager. Hier sprach man im Hause deutsch, italiä¬ nisch und französisch fast gleich fertig, und der Wirth machte mit seiner Familie einen sehr artigen Zirkel, in dem ich sogleich heimisch war. Suworow hatte einige Zeit bey ihm gestanden, und wir hatten beyde einen Berührungspunkt. Er war ganz voll Enthusias¬ mus für den alten General, und rühmte vorzüglich seine Freundlichkeit und Humanität, welches vielleicht vielen etwas sonderbar und verdächtig vorkommen wird. Aber ich sehe nicht ein, was den Wirth in

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Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 414 . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/442>, abgerufen am 22.11.2024.