Man kann sich nun die Modification II als eine Mischung oder Verbindung von krystallinischem und metallischem Selen vorstellen. Eine vollständige Umwandlung in metallisches Selen ist nicht möglich, da das letztere im reinen Zustande bei ge- wöhnlicher Lufttemperatur kein stabiler Zustand ist und sich bei eintretender Abkühlung bis auf einen durch Mischung oder Verbindung mit krystallinischem Selen vor Rückbildung ge- schützten Rest wieder in krystallinisches Selen, unter Aufnahme latenter Wärme, zurückbildet. Ein ganz analoges Verhalten finden wir beim Ozon. Wenn man reinen Sauerstoff der Gaselektrolyse durch den von mir beschriebenen Ozon-Apparat1) unterwirft, so wird ein Theil des Sauerstoffs in Ozon umgewandelt. Entzieht man das gebildete Ozon durch eine eingelegte Silberplatte oder auf andere Weise fortwährend der entstandenen Mischung von Sauerstoff und Ozon, so kann man nach und nach die ganze Sauerstoffmenge umwandeln. Beseitigt man das gebildete Ozon dagegen nicht, so tritt bald die Grenze auf, wo keine weitere Ozonbildung mehr stattfindet, da nur eine bestimmte Menge Ozon durch Mischung mit unactivem Sauerstoff vor Rückbildung in diesen geschützt wird. Wahrscheinlich ist das Ozon eine "von latenter Wärme freie", allotrope Modification des Sauerstoffs und könnte als metallischer Sauerstoff bezeichnet werden ebenso wie das hypothetische metallische Selen. In diesem "von latenter Wärme freien" oder "metallischen" Zustande haben die Körper das grösste Bestreben, in chemische Verbindung mit einander zu treten, und es ist wahrscheinlich allgemein als der sogenannte active Zustand der Körper, wie er im status nascendi auftritt, zu betrachten. Da die Wärme die Stabilität der latente Wärme haltigen allotropen Zustände der Körper vermindert, so erklärt diese Anschauung auch die ziemlich allgemein beobachtete Be- günstigung chemischer Umbildungen durch Erwärmung. Ebenso erklärt sie die allgemein beobachtete Thatsache, dass die elek- trolytische Leitung durch Erwärmung begünstigt wird, da man annehmen muss, dass auch die chemischen Verbindungen ver- schiedener Körper allotrope, latente Wärme haltige Molekular- Zustände annehmen, die erst in den "metallischen" Zustand zu-
1) Pogg. Ann. Band 102, pag. 120.
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Man kann sich nun die Modification II als eine Mischung oder Verbindung von krystallinischem und metallischem Selen vorstellen. Eine vollständige Umwandlung in metallisches Selen ist nicht möglich, da das letztere im reinen Zustande bei ge- wöhnlicher Lufttemperatur kein stabiler Zustand ist und sich bei eintretender Abkühlung bis auf einen durch Mischung oder Verbindung mit krystallinischem Selen vor Rückbildung ge- schützten Rest wieder in krystallinisches Selen, unter Aufnahme latenter Wärme, zurückbildet. Ein ganz analoges Verhalten finden wir beim Ozon. Wenn man reinen Sauerstoff der Gaselektrolyse durch den von mir beschriebenen Ozon-Apparat1) unterwirft, so wird ein Theil des Sauerstoffs in Ozon umgewandelt. Entzieht man das gebildete Ozon durch eine eingelegte Silberplatte oder auf andere Weise fortwährend der entstandenen Mischung von Sauerstoff und Ozon, so kann man nach und nach die ganze Sauerstoffmenge umwandeln. Beseitigt man das gebildete Ozon dagegen nicht, so tritt bald die Grenze auf, wo keine weitere Ozonbildung mehr stattfindet, da nur eine bestimmte Menge Ozon durch Mischung mit unactivem Sauerstoff vor Rückbildung in diesen geschützt wird. Wahrscheinlich ist das Ozon eine „von latenter Wärme freie“, allotrope Modification des Sauerstoffs und könnte als metallischer Sauerstoff bezeichnet werden ebenso wie das hypothetische metallische Selen. In diesem „von latenter Wärme freien“ oder „metallischen“ Zustande haben die Körper das grösste Bestreben, in chemische Verbindung mit einander zu treten, und es ist wahrscheinlich allgemein als der sogenannte active Zustand der Körper, wie er im status nascendi auftritt, zu betrachten. Da die Wärme die Stabilität der latente Wärme haltigen allotropen Zustände der Körper vermindert, so erklärt diese Anschauung auch die ziemlich allgemein beobachtete Be- günstigung chemischer Umbildungen durch Erwärmung. Ebenso erklärt sie die allgemein beobachtete Thatsache, dass die elek- trolytische Leitung durch Erwärmung begünstigt wird, da man annehmen muss, dass auch die chemischen Verbindungen ver- schiedener Körper allotrope, latente Wärme haltige Molekular- Zustände annehmen, die erst in den „metallischen“ Zustand zu-
1) Pogg. Ann. Band 102, pag. 120.
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Man kann sich nun die Modification II als eine Mischung
oder Verbindung von krystallinischem und metallischem Selen
vorstellen. Eine vollständige Umwandlung in metallisches Selen
ist nicht möglich, da das letztere im reinen Zustande bei ge-
wöhnlicher Lufttemperatur kein stabiler Zustand ist und sich
bei eintretender Abkühlung bis auf einen durch Mischung oder
Verbindung mit krystallinischem Selen vor Rückbildung ge-
schützten Rest wieder in krystallinisches Selen, unter Aufnahme
latenter Wärme, zurückbildet. Ein ganz analoges Verhalten finden
wir beim Ozon. Wenn man reinen Sauerstoff der Gaselektrolyse
durch den von mir beschriebenen Ozon-Apparat 1) unterwirft, so
wird ein Theil des Sauerstoffs in Ozon umgewandelt. Entzieht
man das gebildete Ozon durch eine eingelegte Silberplatte oder
auf andere Weise fortwährend der entstandenen Mischung von
Sauerstoff und Ozon, so kann man nach und nach die ganze
Sauerstoffmenge umwandeln. Beseitigt man das gebildete Ozon
dagegen nicht, so tritt bald die Grenze auf, wo keine weitere
Ozonbildung mehr stattfindet, da nur eine bestimmte Menge Ozon
durch Mischung mit unactivem Sauerstoff vor Rückbildung in
diesen geschützt wird. Wahrscheinlich ist das Ozon eine „von
latenter Wärme freie“, allotrope Modification des Sauerstoffs und
könnte als metallischer Sauerstoff bezeichnet werden ebenso wie
das hypothetische metallische Selen. In diesem „von latenter
Wärme freien“ oder „metallischen“ Zustande haben die Körper
das grösste Bestreben, in chemische Verbindung mit einander
zu treten, und es ist wahrscheinlich allgemein als der sogenannte
active Zustand der Körper, wie er im status nascendi auftritt,
zu betrachten. Da die Wärme die Stabilität der latente Wärme
haltigen allotropen Zustände der Körper vermindert, so erklärt
diese Anschauung auch die ziemlich allgemein beobachtete Be-
günstigung chemischer Umbildungen durch Erwärmung. Ebenso
erklärt sie die allgemein beobachtete Thatsache, dass die elek-
trolytische Leitung durch Erwärmung begünstigt wird, da man
annehmen muss, dass auch die chemischen Verbindungen ver-
schiedener Körper allotrope, latente Wärme haltige Molekular-
Zustände annehmen, die erst in den „metallischen“ Zustand zu-
1) Pogg. Ann. Band 102, pag. 120.
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Siemens, Werner von: Gesammelte Abhandlungen und Vorträge. Berlin, 1881, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/siemens_abhandlungen_1881/441>, abgerufen am 22.11.2024.
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