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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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Verdichtung des Subjektiven herstellen. Offenbar bildet sich
nun der öffentliche Geist von vornherein auf dem Wege, der
den Einzelgeist relativ spät zur Richtigkeit und Sicherheit
seiner Inhalte führt. Gerade weil so äusserst verschieden-
artige Interessen in gleichem Masse an den öffentlichen Ein-
richtungen und Massregeln beteiligt sind, müssen diese sozu-
sagen im Indifferenzpunkt aller jener Entgegengesetztheiten
stehen; sie müssen den Charakter der Objektivität tragen,
weil die Subjektivität jedes Einzelnen schon dafür sorgt, dass
nicht der eines anderen ein zu grosser Einfluss auf sie ein-
geräumt werde. Als gemeinsame Grundlage, aber, worauf es
für die jetzige Betrachtung ankommt, auch als gemeinsames
Resultat der Bewährung aller möglichen Tendenzen und Be-
anlagungen muss das Handeln der Gruppe eine umfassende
Objektivität zeigen und den Durchschnitt bilden, der selbst
von der Excentricität seiner Faktoren frei ist. Dieser Sicher-
heit und Möglichkeit entspricht nun freilich ein gewisser For-
malismus und Mangel an konkreten Inhalten in grossen Be-
zirken des öffentlichen Wesens. Je grösser der sociale Kreis
ist, desto mehr Interessen kreuzen sich in ihm und desto
farbloser müssen die Bestimmungen sein, die ihn als ganzen
treffen und die nun ihre specielle und konkrete Erfüllung
von engeren Kreisen und von Individuen erwarten müssen.
Wenn es also auch genetisch eine höhere und spätere Stufe
ist, die das Niveau der Allgemeinheit objektiv sicher und
zweckmässig bestimmt erscheinen lässt, so sehen wir doch auch
in dieser Beziehung, dass mit jenen Vorzügen eine gewisse
Niedrigkeit seines Inhalts in bedingender Verbindung steht.

Die anscheinende Irrtumslosigkeit der Allgemeinheit dem
Einzelnen gegenüber mag aber auch so zusammenhängen, dass
ihr Vorstellen und Handeln die Norm bildet, an der sich für
den Einzelnen Richtigkeit oder Irrtum messen. Wir haben
schliesslich kein anderes Kriterium für die Wahrheit als die
Möglichkeit, jeden hinreichend ausgebildeten Geist von ihr
zu überzeugen. Die Formen, in denen dies möglich ist, haben
allerdings allmählich eine solche Festigkeit und Selbständig-
keit erlangt, dass sie, als logische und erkenntnistheoreti-
sche Gesetze, auch da zu der subjektiven Überzeugung von
Wahrheit führen, wo im einzelnen Fall die Allgemeinheit
noch anderer Überzeugung ist; aber immer muss auch dann
der Glaube vorhanden sein, dass irgendwann auch diese sich
wird davon durchdringen lassen; ein Satz, von dem es fest-
stände, dass die Allgemeinheit ihn nie annehmen wird, würde
auch für den Einzelnen nicht den Stempel der Wahrheit
tragen. Und das Gleiche gilt für die Richtigkeit des Han-
delns; wo wir gegen den Widerspruch einer ganzen Welt
überzeugt sind, recht und sittlich zu handeln, muss doch der
Glaube zu grunde liegen, dass eine vorgeschrittenere Gesell-

X 1.
Verdichtung des Subjektiven herstellen. Offenbar bildet sich
nun der öffentliche Geist von vornherein auf dem Wege, der
den Einzelgeist relativ spät zur Richtigkeit und Sicherheit
seiner Inhalte führt. Gerade weil so äuſserst verschieden-
artige Interessen in gleichem Maſse an den öffentlichen Ein-
richtungen und Maſsregeln beteiligt sind, müssen diese sozu-
sagen im Indifferenzpunkt aller jener Entgegengesetztheiten
stehen; sie müssen den Charakter der Objektivität tragen,
weil die Subjektivität jedes Einzelnen schon dafür sorgt, daſs
nicht der eines anderen ein zu groſser Einfluſs auf sie ein-
geräumt werde. Als gemeinsame Grundlage, aber, worauf es
für die jetzige Betrachtung ankommt, auch als gemeinsames
Resultat der Bewährung aller möglichen Tendenzen und Be-
anlagungen muſs das Handeln der Gruppe eine umfassende
Objektivität zeigen und den Durchschnitt bilden, der selbst
von der Excentricität seiner Faktoren frei ist. Dieser Sicher-
heit und Möglichkeit entspricht nun freilich ein gewisser For-
malismus und Mangel an konkreten Inhalten in groſsen Be-
zirken des öffentlichen Wesens. Je gröſser der sociale Kreis
ist, desto mehr Interessen kreuzen sich in ihm und desto
farbloser müssen die Bestimmungen sein, die ihn als ganzen
treffen und die nun ihre specielle und konkrete Erfüllung
von engeren Kreisen und von Individuen erwarten müssen.
Wenn es also auch genetisch eine höhere und spätere Stufe
ist, die das Niveau der Allgemeinheit objektiv sicher und
zweckmäſsig bestimmt erscheinen läſst, so sehen wir doch auch
in dieser Beziehung, daſs mit jenen Vorzügen eine gewisse
Niedrigkeit seines Inhalts in bedingender Verbindung steht.

Die anscheinende Irrtumslosigkeit der Allgemeinheit dem
Einzelnen gegenüber mag aber auch so zusammenhängen, daſs
ihr Vorstellen und Handeln die Norm bildet, an der sich für
den Einzelnen Richtigkeit oder Irrtum messen. Wir haben
schlieſslich kein anderes Kriterium für die Wahrheit als die
Möglichkeit, jeden hinreichend ausgebildeten Geist von ihr
zu überzeugen. Die Formen, in denen dies möglich ist, haben
allerdings allmählich eine solche Festigkeit und Selbständig-
keit erlangt, daſs sie, als logische und erkenntnistheoreti-
sche Gesetze, auch da zu der subjektiven Überzeugung von
Wahrheit führen, wo im einzelnen Fall die Allgemeinheit
noch anderer Überzeugung ist; aber immer muſs auch dann
der Glaube vorhanden sein, daſs irgendwann auch diese sich
wird davon durchdringen lassen; ein Satz, von dem es fest-
stände, daſs die Allgemeinheit ihn nie annehmen wird, würde
auch für den Einzelnen nicht den Stempel der Wahrheit
tragen. Und das Gleiche gilt für die Richtigkeit des Han-
delns; wo wir gegen den Widerspruch einer ganzen Welt
überzeugt sind, recht und sittlich zu handeln, muſs doch der
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[88/0102] X 1. Verdichtung des Subjektiven herstellen. Offenbar bildet sich nun der öffentliche Geist von vornherein auf dem Wege, der den Einzelgeist relativ spät zur Richtigkeit und Sicherheit seiner Inhalte führt. Gerade weil so äuſserst verschieden- artige Interessen in gleichem Maſse an den öffentlichen Ein- richtungen und Maſsregeln beteiligt sind, müssen diese sozu- sagen im Indifferenzpunkt aller jener Entgegengesetztheiten stehen; sie müssen den Charakter der Objektivität tragen, weil die Subjektivität jedes Einzelnen schon dafür sorgt, daſs nicht der eines anderen ein zu groſser Einfluſs auf sie ein- geräumt werde. Als gemeinsame Grundlage, aber, worauf es für die jetzige Betrachtung ankommt, auch als gemeinsames Resultat der Bewährung aller möglichen Tendenzen und Be- anlagungen muſs das Handeln der Gruppe eine umfassende Objektivität zeigen und den Durchschnitt bilden, der selbst von der Excentricität seiner Faktoren frei ist. Dieser Sicher- heit und Möglichkeit entspricht nun freilich ein gewisser For- malismus und Mangel an konkreten Inhalten in groſsen Be- zirken des öffentlichen Wesens. Je gröſser der sociale Kreis ist, desto mehr Interessen kreuzen sich in ihm und desto farbloser müssen die Bestimmungen sein, die ihn als ganzen treffen und die nun ihre specielle und konkrete Erfüllung von engeren Kreisen und von Individuen erwarten müssen. Wenn es also auch genetisch eine höhere und spätere Stufe ist, die das Niveau der Allgemeinheit objektiv sicher und zweckmäſsig bestimmt erscheinen läſst, so sehen wir doch auch in dieser Beziehung, daſs mit jenen Vorzügen eine gewisse Niedrigkeit seines Inhalts in bedingender Verbindung steht. Die anscheinende Irrtumslosigkeit der Allgemeinheit dem Einzelnen gegenüber mag aber auch so zusammenhängen, daſs ihr Vorstellen und Handeln die Norm bildet, an der sich für den Einzelnen Richtigkeit oder Irrtum messen. Wir haben schlieſslich kein anderes Kriterium für die Wahrheit als die Möglichkeit, jeden hinreichend ausgebildeten Geist von ihr zu überzeugen. Die Formen, in denen dies möglich ist, haben allerdings allmählich eine solche Festigkeit und Selbständig- keit erlangt, daſs sie, als logische und erkenntnistheoreti- sche Gesetze, auch da zu der subjektiven Überzeugung von Wahrheit führen, wo im einzelnen Fall die Allgemeinheit noch anderer Überzeugung ist; aber immer muſs auch dann der Glaube vorhanden sein, daſs irgendwann auch diese sich wird davon durchdringen lassen; ein Satz, von dem es fest- stände, daſs die Allgemeinheit ihn nie annehmen wird, würde auch für den Einzelnen nicht den Stempel der Wahrheit tragen. Und das Gleiche gilt für die Richtigkeit des Han- delns; wo wir gegen den Widerspruch einer ganzen Welt überzeugt sind, recht und sittlich zu handeln, muſs doch der Glaube zu grunde liegen, daſs eine vorgeschrittenere Gesell-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/102>, abgerufen am 23.11.2024.