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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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schaft, eine solche, die eine tiefere Einsicht in das ihr wahr-
haft Nützliche haben wird, unsere Handlungsweise billigen
wird. Aus dieser, wenn auch unbewussten Anlehnung an eine
ideale Gesamtheit, auf deren Niveau die jetzt vorhandene nur
relativ zufällig noch nicht steht, schöpfen wir die Stärke und
Siegessicherheit für unsere theoretischen und praktischen
Überzeugungen, die augenblicklich noch völlig individuelle
sind. In der Gewissheit eben dieser anticipiert das Indivi-
duum ein Niveau der Allgemeinheit, auf dem das jetzt Diffe-
renzierte zum Gemeingut geworden ist.

Die Begründung dieser Annahmen liegt wesentlich auf
praktischem Gebiet. Der Einzelne kann seine Zwecke so sehr
nur im Anschluss an eine Allgemeinheit und durch ihre Mit-
wirkung erreichen, dass die Isolierung von ihr ihm zugleich
auch in jeder andern Beziehung alles das nehmen würde, was
er als Norm, als Gesolltes empfindet, und dass, wo er sich
ihr dennoch entgegensetzt, dies nur durch eine individuelle
Kombination der von der Gesamtheit dennoch ausgehenden
Normen geschieht, die in ihr selbst zwar noch nicht realisiert
ist, aber ohne die Möglichkeit einer solchen Realisierung über-
haupt wertlos wäre. Welches nun aber auch die gattungs-
psychologischen Motive seien, es scheint mir unbezweifelbar,
dass das subjektive Gefühl der Sicherheit in theoretischer und
ethischer Beziehung zusammenfalle mit dem mehr oder minder
klaren Bewusstsein der Übereinstimmung mit einer Gesamt-
heit; bei der durchgängigen Wechselwirkung dieser Be-
ziehungen ist dann die ruhevolle Befriedigung, die Meeres-
stille der Seele, wie sie aus der Unerschütterlichkeit von
Überzeugungen quillt, eben daraus zu erklären, dass diese
letztere nur einen Ausdruck für die Übereinstimmung mit
einer Gesamtheit und für das Getragensein durch sie bildet.
Hierdurch verstehen wir den eigenartigen Reiz des Dogmati-
schen als solchen; was sich uns als Bestimmtes, Unanzweifel-
bares und zugleich als allgemein Geltendes giebt, gewährt an
und für sich eine Befriedigung und einen inneren Halt, dem
gegenüber der Inhalt des Dogmas relativ gleichgültig ist. In
dieser Form der absoluten Sicherheit, die nur ein Korrelat
der Übereinstimmung mit der Gesamtheit ist, liegt eine der
hauptsächlichen Anziehungskräfte der katholischen Kirche;
indem sie dem Individuum eine Lehre bietet, welche kath olou
gilt, und von der jede Abweichung eigentlich unmöglich,
jedenfalls völlig ketzerisch ist -- wie es denn Pius IX. direkt
aussprach, dass jeder Mensch in irgendeinem Sinne der ka-
tholischen Kirche zugehöre --, appelliert sie in stärkstem Mass
an das sociale Element im Menschen und lässt den Einzelnen
in der sachlichen Bestimmtheit des Glaubens zugleich alle
Sicherheit gewinnen, die in der Übereinstimmung mit der
Gesamtheit liegt; und umgekehrt, weil sich Objektivität und

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schaft, eine solche, die eine tiefere Einsicht in das ihr wahr-
haft Nützliche haben wird, unsere Handlungsweise billigen
wird. Aus dieser, wenn auch unbewuſsten Anlehnung an eine
ideale Gesamtheit, auf deren Niveau die jetzt vorhandene nur
relativ zufällig noch nicht steht, schöpfen wir die Stärke und
Siegessicherheit für unsere theoretischen und praktischen
Überzeugungen, die augenblicklich noch völlig individuelle
sind. In der Gewiſsheit eben dieser anticipiert das Indivi-
duum ein Niveau der Allgemeinheit, auf dem das jetzt Diffe-
renzierte zum Gemeingut geworden ist.

Die Begründung dieser Annahmen liegt wesentlich auf
praktischem Gebiet. Der Einzelne kann seine Zwecke so sehr
nur im Anschluſs an eine Allgemeinheit und durch ihre Mit-
wirkung erreichen, daſs die Isolierung von ihr ihm zugleich
auch in jeder andern Beziehung alles das nehmen würde, was
er als Norm, als Gesolltes empfindet, und daſs, wo er sich
ihr dennoch entgegensetzt, dies nur durch eine individuelle
Kombination der von der Gesamtheit dennoch ausgehenden
Normen geschieht, die in ihr selbst zwar noch nicht realisiert
ist, aber ohne die Möglichkeit einer solchen Realisierung über-
haupt wertlos wäre. Welches nun aber auch die gattungs-
psychologischen Motive seien, es scheint mir unbezweifelbar,
daſs das subjektive Gefühl der Sicherheit in theoretischer und
ethischer Beziehung zusammenfalle mit dem mehr oder minder
klaren Bewuſstsein der Übereinstimmung mit einer Gesamt-
heit; bei der durchgängigen Wechselwirkung dieser Be-
ziehungen ist dann die ruhevolle Befriedigung, die Meeres-
stille der Seele, wie sie aus der Unerschütterlichkeit von
Überzeugungen quillt, eben daraus zu erklären, daſs diese
letztere nur einen Ausdruck für die Übereinstimmung mit
einer Gesamtheit und für das Getragensein durch sie bildet.
Hierdurch verstehen wir den eigenartigen Reiz des Dogmati-
schen als solchen; was sich uns als Bestimmtes, Unanzweifel-
bares und zugleich als allgemein Geltendes giebt, gewährt an
und für sich eine Befriedigung und einen inneren Halt, dem
gegenüber der Inhalt des Dogmas relativ gleichgültig ist. In
dieser Form der absoluten Sicherheit, die nur ein Korrelat
der Übereinstimmung mit der Gesamtheit ist, liegt eine der
hauptsächlichen Anziehungskräfte der katholischen Kirche;
indem sie dem Individuum eine Lehre bietet, welche καϑ̕ ὅλου
gilt, und von der jede Abweichung eigentlich unmöglich,
jedenfalls völlig ketzerisch ist — wie es denn Pius IX. direkt
aussprach, daſs jeder Mensch in irgendeinem Sinne der ka-
tholischen Kirche zugehöre —, appelliert sie in stärkstem Maſs
an das sociale Element im Menschen und läſst den Einzelnen
in der sachlichen Bestimmtheit des Glaubens zugleich alle
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[89/0103] X 1. schaft, eine solche, die eine tiefere Einsicht in das ihr wahr- haft Nützliche haben wird, unsere Handlungsweise billigen wird. Aus dieser, wenn auch unbewuſsten Anlehnung an eine ideale Gesamtheit, auf deren Niveau die jetzt vorhandene nur relativ zufällig noch nicht steht, schöpfen wir die Stärke und Siegessicherheit für unsere theoretischen und praktischen Überzeugungen, die augenblicklich noch völlig individuelle sind. In der Gewiſsheit eben dieser anticipiert das Indivi- duum ein Niveau der Allgemeinheit, auf dem das jetzt Diffe- renzierte zum Gemeingut geworden ist. Die Begründung dieser Annahmen liegt wesentlich auf praktischem Gebiet. Der Einzelne kann seine Zwecke so sehr nur im Anschluſs an eine Allgemeinheit und durch ihre Mit- wirkung erreichen, daſs die Isolierung von ihr ihm zugleich auch in jeder andern Beziehung alles das nehmen würde, was er als Norm, als Gesolltes empfindet, und daſs, wo er sich ihr dennoch entgegensetzt, dies nur durch eine individuelle Kombination der von der Gesamtheit dennoch ausgehenden Normen geschieht, die in ihr selbst zwar noch nicht realisiert ist, aber ohne die Möglichkeit einer solchen Realisierung über- haupt wertlos wäre. Welches nun aber auch die gattungs- psychologischen Motive seien, es scheint mir unbezweifelbar, daſs das subjektive Gefühl der Sicherheit in theoretischer und ethischer Beziehung zusammenfalle mit dem mehr oder minder klaren Bewuſstsein der Übereinstimmung mit einer Gesamt- heit; bei der durchgängigen Wechselwirkung dieser Be- ziehungen ist dann die ruhevolle Befriedigung, die Meeres- stille der Seele, wie sie aus der Unerschütterlichkeit von Überzeugungen quillt, eben daraus zu erklären, daſs diese letztere nur einen Ausdruck für die Übereinstimmung mit einer Gesamtheit und für das Getragensein durch sie bildet. Hierdurch verstehen wir den eigenartigen Reiz des Dogmati- schen als solchen; was sich uns als Bestimmtes, Unanzweifel- bares und zugleich als allgemein Geltendes giebt, gewährt an und für sich eine Befriedigung und einen inneren Halt, dem gegenüber der Inhalt des Dogmas relativ gleichgültig ist. In dieser Form der absoluten Sicherheit, die nur ein Korrelat der Übereinstimmung mit der Gesamtheit ist, liegt eine der hauptsächlichen Anziehungskräfte der katholischen Kirche; indem sie dem Individuum eine Lehre bietet, welche καϑ̕ ὅλου gilt, und von der jede Abweichung eigentlich unmöglich, jedenfalls völlig ketzerisch ist — wie es denn Pius IX. direkt aussprach, daſs jeder Mensch in irgendeinem Sinne der ka- tholischen Kirche zugehöre —, appelliert sie in stärkstem Maſs an das sociale Element im Menschen und läſst den Einzelnen in der sachlichen Bestimmtheit des Glaubens zugleich alle Sicherheit gewinnen, die in der Übereinstimmung mit der Gesamtheit liegt; und umgekehrt, weil sich Objektivität und

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/103>, abgerufen am 27.11.2024.