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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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Wahrheit mit der Annahme durch die Gesamtheit deckt, ge-
gewährt die Lehre, von der die letztere gilt, allen Rückhalt
und alle Befriedigung der ersteren. Eine durchaus zuver-
lässige Persönlichkeit erzählte mir von einer Unterredung mit
einem der höchsten Würdenträger der katholischen Kirche,
in deren Verlauf dieser äusserte: Die innigsten und nützlich-
sten Anhänger der katholischen Kirche seien immer Menschen
gewesen, die eine schwere Sünde oder einen grossen Irrtum
hinter sich hatten. Das ist psychologisch durchaus begreiflich.
Wer sehr geirrt hat, sei es im Sittlichen oder im Theoreti-
schen, wirft sich allem, was sich ihm als unfehlbare Wahr-
heit darbietet, in die Arme; d. h. das subjektive individuali-
stische Prinzip hat sich ihm als so unzulänglich erwiesen, dass
er nun das Niveau sucht, auf dem ihm die Übereinstimmung
mit der Gesamtheit Sicherheit und Ruhe gewährt.

Indessen ist der Nachteil eines solchen Vorteils nicht nur
der, dass nach den obigen Ausführungen ein sociologisches
Niveau, um allen zugänglich zu sein, so niedrig liegen muss,
dass es den Höheren viel tiefer hinabzusteigen nötigt, als es
den Niedrigen hinaufzieht, sondern die Entlastung von indi-
vidueller Verantwortung und Initiative lässt die zu dieser er-
forderlichen Kräfte rosten und giebt dem Individuum eine
sorglose Sicherheit, die die Schärfung und Ausbildung seiner
Anlagen verhindert. In der Vogelwelt finden wir auffallende
Beispiele dafür; von den australischen Lorikets, von den
Tukans, von den amerikanischen Tauben wird uns berichtet,
dass sie sich ausserordentlich dumm und unvorsichtig benehmen,
sobald sie in grossen Zügen auftreten, dagegen scheu und ge-
witzt, wenn sie sich allein halten. Indem der einzelne Vogel
sich auf seine Gefährten verlässt, erspart er gewisse höhere
individuelle Funktionen, wodurch indes dann schliesslich auch
das Niveau der Gesamtheit leidet.

Doch wird im grossen und ganzen ein sociales Niveau
um so mehr Chancen zu seiner Erhöhung haben, je mehr
Mitglieder es zählt; denn erstens ist der Kampf um die Exi-
stenz und um die bevorzugte Stellung ein schärferer unter
vielen, als unter wenigen, und die Auslese eine um so stren-
gere. Auf dem hohen Kulturniveau der oberen Zehntausend,
deren Lage behaglich genug ist, um schon auf einen viel ge-
ringeren Kampf den Preis des Lebenkönnens zu setzen, auf
dem auch die Specialität des Einzelnen früh genug ausge-
bildet wird, um ihn für relativ weniger umkämpfte Stellungen
zu befähigen, machen sich die Nachteile der weniger strengen
Auslese hier und da bemerklich. Schon in äusserer Beziehung
glaube ich, dass die zunehmende körperliche Schwächlichkeit
unserer höheren Stände zum grossen Teil daher rührt, dass
sie elende, an sich kaum lebensfähige Kinder vermöge aus-
gezeichneter Pflege und Hygiene aufbringen, natürlich aber

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Wahrheit mit der Annahme durch die Gesamtheit deckt, ge-
gewährt die Lehre, von der die letztere gilt, allen Rückhalt
und alle Befriedigung der ersteren. Eine durchaus zuver-
lässige Persönlichkeit erzählte mir von einer Unterredung mit
einem der höchsten Würdenträger der katholischen Kirche,
in deren Verlauf dieser äuſserte: Die innigsten und nützlich-
sten Anhänger der katholischen Kirche seien immer Menschen
gewesen, die eine schwere Sünde oder einen groſsen Irrtum
hinter sich hatten. Das ist psychologisch durchaus begreiflich.
Wer sehr geirrt hat, sei es im Sittlichen oder im Theoreti-
schen, wirft sich allem, was sich ihm als unfehlbare Wahr-
heit darbietet, in die Arme; d. h. das subjektive individuali-
stische Prinzip hat sich ihm als so unzulänglich erwiesen, daſs
er nun das Niveau sucht, auf dem ihm die Übereinstimmung
mit der Gesamtheit Sicherheit und Ruhe gewährt.

Indessen ist der Nachteil eines solchen Vorteils nicht nur
der, daſs nach den obigen Ausführungen ein sociologisches
Niveau, um allen zugänglich zu sein, so niedrig liegen muſs,
daſs es den Höheren viel tiefer hinabzusteigen nötigt, als es
den Niedrigen hinaufzieht, sondern die Entlastung von indi-
vidueller Verantwortung und Initiative läſst die zu dieser er-
forderlichen Kräfte rosten und giebt dem Individuum eine
sorglose Sicherheit, die die Schärfung und Ausbildung seiner
Anlagen verhindert. In der Vogelwelt finden wir auffallende
Beispiele dafür; von den australischen Lorikets, von den
Tukans, von den amerikanischen Tauben wird uns berichtet,
daſs sie sich auſserordentlich dumm und unvorsichtig benehmen,
sobald sie in groſsen Zügen auftreten, dagegen scheu und ge-
witzt, wenn sie sich allein halten. Indem der einzelne Vogel
sich auf seine Gefährten verläſst, erspart er gewisse höhere
individuelle Funktionen, wodurch indes dann schlieſslich auch
das Niveau der Gesamtheit leidet.

Doch wird im groſsen und ganzen ein sociales Niveau
um so mehr Chancen zu seiner Erhöhung haben, je mehr
Mitglieder es zählt; denn erstens ist der Kampf um die Exi-
stenz und um die bevorzugte Stellung ein schärferer unter
vielen, als unter wenigen, und die Auslese eine um so stren-
gere. Auf dem hohen Kulturniveau der oberen Zehntausend,
deren Lage behaglich genug ist, um schon auf einen viel ge-
ringeren Kampf den Preis des Lebenkönnens zu setzen, auf
dem auch die Specialität des Einzelnen früh genug ausge-
bildet wird, um ihn für relativ weniger umkämpfte Stellungen
zu befähigen, machen sich die Nachteile der weniger strengen
Auslese hier und da bemerklich. Schon in äuſserer Beziehung
glaube ich, daſs die zunehmende körperliche Schwächlichkeit
unserer höheren Stände zum groſsen Teil daher rührt, daſs
sie elende, an sich kaum lebensfähige Kinder vermöge aus-
gezeichneter Pflege und Hygiene aufbringen, natürlich aber

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[90/0104] X 1. Wahrheit mit der Annahme durch die Gesamtheit deckt, ge- gewährt die Lehre, von der die letztere gilt, allen Rückhalt und alle Befriedigung der ersteren. Eine durchaus zuver- lässige Persönlichkeit erzählte mir von einer Unterredung mit einem der höchsten Würdenträger der katholischen Kirche, in deren Verlauf dieser äuſserte: Die innigsten und nützlich- sten Anhänger der katholischen Kirche seien immer Menschen gewesen, die eine schwere Sünde oder einen groſsen Irrtum hinter sich hatten. Das ist psychologisch durchaus begreiflich. Wer sehr geirrt hat, sei es im Sittlichen oder im Theoreti- schen, wirft sich allem, was sich ihm als unfehlbare Wahr- heit darbietet, in die Arme; d. h. das subjektive individuali- stische Prinzip hat sich ihm als so unzulänglich erwiesen, daſs er nun das Niveau sucht, auf dem ihm die Übereinstimmung mit der Gesamtheit Sicherheit und Ruhe gewährt. Indessen ist der Nachteil eines solchen Vorteils nicht nur der, daſs nach den obigen Ausführungen ein sociologisches Niveau, um allen zugänglich zu sein, so niedrig liegen muſs, daſs es den Höheren viel tiefer hinabzusteigen nötigt, als es den Niedrigen hinaufzieht, sondern die Entlastung von indi- vidueller Verantwortung und Initiative läſst die zu dieser er- forderlichen Kräfte rosten und giebt dem Individuum eine sorglose Sicherheit, die die Schärfung und Ausbildung seiner Anlagen verhindert. In der Vogelwelt finden wir auffallende Beispiele dafür; von den australischen Lorikets, von den Tukans, von den amerikanischen Tauben wird uns berichtet, daſs sie sich auſserordentlich dumm und unvorsichtig benehmen, sobald sie in groſsen Zügen auftreten, dagegen scheu und ge- witzt, wenn sie sich allein halten. Indem der einzelne Vogel sich auf seine Gefährten verläſst, erspart er gewisse höhere individuelle Funktionen, wodurch indes dann schlieſslich auch das Niveau der Gesamtheit leidet. Doch wird im groſsen und ganzen ein sociales Niveau um so mehr Chancen zu seiner Erhöhung haben, je mehr Mitglieder es zählt; denn erstens ist der Kampf um die Exi- stenz und um die bevorzugte Stellung ein schärferer unter vielen, als unter wenigen, und die Auslese eine um so stren- gere. Auf dem hohen Kulturniveau der oberen Zehntausend, deren Lage behaglich genug ist, um schon auf einen viel ge- ringeren Kampf den Preis des Lebenkönnens zu setzen, auf dem auch die Specialität des Einzelnen früh genug ausge- bildet wird, um ihn für relativ weniger umkämpfte Stellungen zu befähigen, machen sich die Nachteile der weniger strengen Auslese hier und da bemerklich. Schon in äuſserer Beziehung glaube ich, daſs die zunehmende körperliche Schwächlichkeit unserer höheren Stände zum groſsen Teil daher rührt, daſs sie elende, an sich kaum lebensfähige Kinder vermöge aus- gezeichneter Pflege und Hygiene aufbringen, natürlich aber

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/104>, abgerufen am 23.11.2024.