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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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X 1.
vollkommen in den Bann der Partei geben will, sich etwa
mit seiner ästhetischen oder religiösen Überzeugung einer
Gruppierung anschliessen wird, die mit seinen politischen
Gegnern amalgamiert ist. Er wird im Schnittpunkt zweier
Gruppen stehen, die sich sonst als einander entgegengesetzte
bewusst sind. Ganzen Massen wurde eine solche Doppel-
stellung zur Zeit der grausamen Unterdrückung der irischen
Katholiken durch England aufgezwungen. Heute fühlten sich
die Protestanten Englands und Irlands verbunden gegen den
gemeinsamen Religionsfeind ohne Rücksicht auf die Lands-
mannschaft, morgen waren die Protestanten und Katholiken
Irlands gegen den Unterdrücker ihres gemeinsamen Vater-
landes verbunden ohne Rücksicht auf Religionsverschiedenheit.

Die Ausbildung des öffentlichen Geistes zeigt sich nun
darin, dass genügend viele Kreise von irgendwelcher objek-
tiven Form und Organisierung vorhanden sind, um jeder
Wesensseite einer mannichfach beanlagten Persönlichkeit Zu-
sammenschluss und genossenschaftliche Bethätigung zu ge-
währen. Hierdurch wird eine gleichmässige Annäherung an
das Ideal des Kollektivismus wie des Individualismus geboten.
Denn einerseits findet der Einzelne für jede seiner Neigungen
und Bestrebungen eine Gemeinschaft vor, die ihm die Be-
friedigung derselben erleichtert, seinen Thätigkeiten je eine
als zweckmässig erprobte Form und alle Vorteile der Gruppen-
angehörigkeit darbietet; andererseits wird das Specifische der
Individualität durch die Kombination der Kreise gewahrt,
die in jedem Fall eine andere sein kann. Wenn die vor-
geschrittene Kultur den socialen Kreis, dem wir mit unserer
ganzen Persönlichkeit angehören, mehr und mehr erweitert,
dafür aber das Individuum in höherem Masse auf sich selbst
stellt und es mancher Stützen und Vorteile des enggeschlossenen
Kreises beraubt: so liegt in jener Herstellung von Kreisen
und Genossenschaften, in denen sich beliebig viele, für den
gleichen Zweck interessierte Menschen zusammenfinden können,
eine Ausgleichung jener Vereinsamung der Persönlichkeit, die
aus dem Bruch mit der engen Umschränktheit früherer Zu-
stände hervorgeht.

Die Enge dieses Zusammenschlusses ist daran zu er-
messen, ob und in welchem Grade ein solcher Kreis eine be-
sondere "Ehre" ausgebildet hat, derart, dass der Verlust oder
die Kränkung der Ehre eines Mitgliedes von jedem andern
Mitgliede als eine Minderung der eigenen Ehre empfunden
wird, oder dass die Genossenschaft eine kollektivpersönliche
Ehre besitzt, deren Wandlungen sich in dem Ehr-Empfinden
jedes Mitgliedes abspiegeln. Durch Herstellung dieses speci-
fischen Ehrbegriffes (Familienehre, Offiziersehre, kaufmänni-
sche Ehre u. s. w.) sichern sich solche Kreise das zweck-
mässige Verhalten ihrer Mitglieder besonders auf dem Gebiete

X 1.
vollkommen in den Bann der Partei geben will, sich etwa
mit seiner ästhetischen oder religiösen Überzeugung einer
Gruppierung anschlieſsen wird, die mit seinen politischen
Gegnern amalgamiert ist. Er wird im Schnittpunkt zweier
Gruppen stehen, die sich sonst als einander entgegengesetzte
bewuſst sind. Ganzen Massen wurde eine solche Doppel-
stellung zur Zeit der grausamen Unterdrückung der irischen
Katholiken durch England aufgezwungen. Heute fühlten sich
die Protestanten Englands und Irlands verbunden gegen den
gemeinsamen Religionsfeind ohne Rücksicht auf die Lands-
mannschaft, morgen waren die Protestanten und Katholiken
Irlands gegen den Unterdrücker ihres gemeinsamen Vater-
landes verbunden ohne Rücksicht auf Religionsverschiedenheit.

Die Ausbildung des öffentlichen Geistes zeigt sich nun
darin, daſs genügend viele Kreise von irgendwelcher objek-
tiven Form und Organisierung vorhanden sind, um jeder
Wesensseite einer mannichfach beanlagten Persönlichkeit Zu-
sammenschluſs und genossenschaftliche Bethätigung zu ge-
währen. Hierdurch wird eine gleichmäſsige Annäherung an
das Ideal des Kollektivismus wie des Individualismus geboten.
Denn einerseits findet der Einzelne für jede seiner Neigungen
und Bestrebungen eine Gemeinschaft vor, die ihm die Be-
friedigung derselben erleichtert, seinen Thätigkeiten je eine
als zweckmäſsig erprobte Form und alle Vorteile der Gruppen-
angehörigkeit darbietet; andererseits wird das Specifische der
Individualität durch die Kombination der Kreise gewahrt,
die in jedem Fall eine andere sein kann. Wenn die vor-
geschrittene Kultur den socialen Kreis, dem wir mit unserer
ganzen Persönlichkeit angehören, mehr und mehr erweitert,
dafür aber das Individuum in höherem Maſse auf sich selbst
stellt und es mancher Stützen und Vorteile des enggeschlossenen
Kreises beraubt: so liegt in jener Herstellung von Kreisen
und Genossenschaften, in denen sich beliebig viele, für den
gleichen Zweck interessierte Menschen zusammenfinden können,
eine Ausgleichung jener Vereinsamung der Persönlichkeit, die
aus dem Bruch mit der engen Umschränktheit früherer Zu-
stände hervorgeht.

Die Enge dieses Zusammenschlusses ist daran zu er-
messen, ob und in welchem Grade ein solcher Kreis eine be-
sondere „Ehre“ ausgebildet hat, derart, daſs der Verlust oder
die Kränkung der Ehre eines Mitgliedes von jedem andern
Mitgliede als eine Minderung der eigenen Ehre empfunden
wird, oder daſs die Genossenschaft eine kollektivpersönliche
Ehre besitzt, deren Wandlungen sich in dem Ehr-Empfinden
jedes Mitgliedes abspiegeln. Durch Herstellung dieses speci-
fischen Ehrbegriffes (Familienehre, Offiziersehre, kaufmänni-
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[106/0120] X 1. vollkommen in den Bann der Partei geben will, sich etwa mit seiner ästhetischen oder religiösen Überzeugung einer Gruppierung anschlieſsen wird, die mit seinen politischen Gegnern amalgamiert ist. Er wird im Schnittpunkt zweier Gruppen stehen, die sich sonst als einander entgegengesetzte bewuſst sind. Ganzen Massen wurde eine solche Doppel- stellung zur Zeit der grausamen Unterdrückung der irischen Katholiken durch England aufgezwungen. Heute fühlten sich die Protestanten Englands und Irlands verbunden gegen den gemeinsamen Religionsfeind ohne Rücksicht auf die Lands- mannschaft, morgen waren die Protestanten und Katholiken Irlands gegen den Unterdrücker ihres gemeinsamen Vater- landes verbunden ohne Rücksicht auf Religionsverschiedenheit. Die Ausbildung des öffentlichen Geistes zeigt sich nun darin, daſs genügend viele Kreise von irgendwelcher objek- tiven Form und Organisierung vorhanden sind, um jeder Wesensseite einer mannichfach beanlagten Persönlichkeit Zu- sammenschluſs und genossenschaftliche Bethätigung zu ge- währen. Hierdurch wird eine gleichmäſsige Annäherung an das Ideal des Kollektivismus wie des Individualismus geboten. Denn einerseits findet der Einzelne für jede seiner Neigungen und Bestrebungen eine Gemeinschaft vor, die ihm die Be- friedigung derselben erleichtert, seinen Thätigkeiten je eine als zweckmäſsig erprobte Form und alle Vorteile der Gruppen- angehörigkeit darbietet; andererseits wird das Specifische der Individualität durch die Kombination der Kreise gewahrt, die in jedem Fall eine andere sein kann. Wenn die vor- geschrittene Kultur den socialen Kreis, dem wir mit unserer ganzen Persönlichkeit angehören, mehr und mehr erweitert, dafür aber das Individuum in höherem Maſse auf sich selbst stellt und es mancher Stützen und Vorteile des enggeschlossenen Kreises beraubt: so liegt in jener Herstellung von Kreisen und Genossenschaften, in denen sich beliebig viele, für den gleichen Zweck interessierte Menschen zusammenfinden können, eine Ausgleichung jener Vereinsamung der Persönlichkeit, die aus dem Bruch mit der engen Umschränktheit früherer Zu- stände hervorgeht. Die Enge dieses Zusammenschlusses ist daran zu er- messen, ob und in welchem Grade ein solcher Kreis eine be- sondere „Ehre“ ausgebildet hat, derart, daſs der Verlust oder die Kränkung der Ehre eines Mitgliedes von jedem andern Mitgliede als eine Minderung der eigenen Ehre empfunden wird, oder daſs die Genossenschaft eine kollektivpersönliche Ehre besitzt, deren Wandlungen sich in dem Ehr-Empfinden jedes Mitgliedes abspiegeln. Durch Herstellung dieses speci- fischen Ehrbegriffes (Familienehre, Offiziersehre, kaufmänni- sche Ehre u. s. w.) sichern sich solche Kreise das zweck- mäſsige Verhalten ihrer Mitglieder besonders auf dem Gebiete

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/120>, abgerufen am 23.11.2024.