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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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derjenigen specifischen Differenz, durch welche sie sich von
dem weitesten socialen Kreise abscheiden, sodass die Zwangs-
massregeln für das richtige Verhalten diesem gegenüber, die
staatlichen Gesetze, keine Bestimmungen für jenes enthalten.
Einer der grössten socialethischen Fortschritte vollzieht sich
auf diese Weise: die enge und strenge Bindung früherer Zu-
stände, in denen die sociale Gruppe als Ganzes, resp. ihre
Zentralgewalt, das Thun und Lassen des Einzelnen nach den
verschiedensten Richtungen hin reguliert, beschränkt ihre Re-
gulative mehr und mehr auf die notwendigen Interessen der
Allgemeinheit; die Freiheit des Individuums gewinnt mehr
und mehr Gebiete für sich. Diese aber werden von neuen
Gruppenbildungen besetzt, aber so, dass die Interessen des
Einzelnen frei entscheiden, zu welcher er gehören will; in-
folge dessen genügt statt äusserer Zwangsmittel schon das
Gefühl der Ehre, um ihn an diejenigen Normen zu fesseln,
deren es zum Bestande der Gruppe bedarf. Übrigens nimmt
dieser Prozess nicht nur von der staatlichen Zwangsgewalt
seinen Ursprung; überall, wo eine Gruppenmacht eine Anzahl
von individuellen Lebensbeziehungen, die sachlich ausser Be-
ziehung zu ihren Zwecken stehen, ursprünglich beherrscht --
auch in der Familie, in der Zunft, in der religiösen Gemein-
schaft u. s. w. --, giebt sie die Anlehnung und den Zusammen-
schluss in Bezug auf jene schliesslich an besondere Vereine
ab, an denen die Beteiligung Sache der persönlichen Freiheit
ist, wodurch denn die Aufgabe der Socialisierung in viel voll-
kommnerer Weise gelöst werden kann, als durch die frühere,
die Individualität mehr vernachlässigende Vereinigung.

Es kommt hinzu, dass die undifferenzierte Herrschaft
einer socialen Macht über den Menschen, wie ausgedehnt und
streng sie auch sei, doch immer noch um eine Reihe von
Lebensbeziehungen sich nicht kümmert und nicht kümmern
kann, und dass diese der rein individuellen Willkür um so
sorgloser und bestimmungsloser überlassen werden, je grösserer
Zwang in den übrigen Beziehungen herrscht; so musste der
griechische und noch mehr der altrömische Bürger sich zwar
in allen mit der Politik nur irgend im Zusammenhang stehenden
Fragen den Normen und Zwecken seiner vaterländischen Ge-
meinschaft bedingungslos unterordnen; aber er besass dafür
als Herr seines Hauses eine um so unumschränktere Selbstherr-
lichkeit; so giebt jener engste sociale Zusammenschluss, wie
wir ihn an den in kleinen Gruppen lebenden Naturvölkern
beobachten, dem Einzelnen vollkommene Freiheit, sich gegen
alle ausserhalb des Stammes stehenden Personen in jeder ihm
beliebenden Weise zu benehmen; so findet der Despotismus
häufig sein Korrelat und sogar seine Unterstützung in der
vollkommensten Freiheit und selbst Zügellosigkeit der wenigen
ihm nicht wichtigen Beziehungen der Persönlichkeiten. Nach

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derjenigen specifischen Differenz, durch welche sie sich von
dem weitesten socialen Kreise abscheiden, sodaſs die Zwangs-
maſsregeln für das richtige Verhalten diesem gegenüber, die
staatlichen Gesetze, keine Bestimmungen für jenes enthalten.
Einer der gröſsten socialethischen Fortschritte vollzieht sich
auf diese Weise: die enge und strenge Bindung früherer Zu-
stände, in denen die sociale Gruppe als Ganzes, resp. ihre
Zentralgewalt, das Thun und Lassen des Einzelnen nach den
verschiedensten Richtungen hin reguliert, beschränkt ihre Re-
gulative mehr und mehr auf die notwendigen Interessen der
Allgemeinheit; die Freiheit des Individuums gewinnt mehr
und mehr Gebiete für sich. Diese aber werden von neuen
Gruppenbildungen besetzt, aber so, daſs die Interessen des
Einzelnen frei entscheiden, zu welcher er gehören will; in-
folge dessen genügt statt äuſserer Zwangsmittel schon das
Gefühl der Ehre, um ihn an diejenigen Normen zu fesseln,
deren es zum Bestande der Gruppe bedarf. Übrigens nimmt
dieser Prozeſs nicht nur von der staatlichen Zwangsgewalt
seinen Ursprung; überall, wo eine Gruppenmacht eine Anzahl
von individuellen Lebensbeziehungen, die sachlich auſser Be-
ziehung zu ihren Zwecken stehen, ursprünglich beherrscht —
auch in der Familie, in der Zunft, in der religiösen Gemein-
schaft u. s. w. —, giebt sie die Anlehnung und den Zusammen-
schluſs in Bezug auf jene schlieſslich an besondere Vereine
ab, an denen die Beteiligung Sache der persönlichen Freiheit
ist, wodurch denn die Aufgabe der Socialisierung in viel voll-
kommnerer Weise gelöst werden kann, als durch die frühere,
die Individualität mehr vernachlässigende Vereinigung.

Es kommt hinzu, daſs die undifferenzierte Herrschaft
einer socialen Macht über den Menschen, wie ausgedehnt und
streng sie auch sei, doch immer noch um eine Reihe von
Lebensbeziehungen sich nicht kümmert und nicht kümmern
kann, und daſs diese der rein individuellen Willkür um so
sorgloser und bestimmungsloser überlassen werden, je gröſserer
Zwang in den übrigen Beziehungen herrscht; so muſste der
griechische und noch mehr der altrömische Bürger sich zwar
in allen mit der Politik nur irgend im Zusammenhang stehenden
Fragen den Normen und Zwecken seiner vaterländischen Ge-
meinschaft bedingungslos unterordnen; aber er besaſs dafür
als Herr seines Hauses eine um so unumschränktere Selbstherr-
lichkeit; so giebt jener engste sociale Zusammenschluſs, wie
wir ihn an den in kleinen Gruppen lebenden Naturvölkern
beobachten, dem Einzelnen vollkommene Freiheit, sich gegen
alle auſserhalb des Stammes stehenden Personen in jeder ihm
beliebenden Weise zu benehmen; so findet der Despotismus
häufig sein Korrelat und sogar seine Unterstützung in der
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[107/0121] X 1. derjenigen specifischen Differenz, durch welche sie sich von dem weitesten socialen Kreise abscheiden, sodaſs die Zwangs- maſsregeln für das richtige Verhalten diesem gegenüber, die staatlichen Gesetze, keine Bestimmungen für jenes enthalten. Einer der gröſsten socialethischen Fortschritte vollzieht sich auf diese Weise: die enge und strenge Bindung früherer Zu- stände, in denen die sociale Gruppe als Ganzes, resp. ihre Zentralgewalt, das Thun und Lassen des Einzelnen nach den verschiedensten Richtungen hin reguliert, beschränkt ihre Re- gulative mehr und mehr auf die notwendigen Interessen der Allgemeinheit; die Freiheit des Individuums gewinnt mehr und mehr Gebiete für sich. Diese aber werden von neuen Gruppenbildungen besetzt, aber so, daſs die Interessen des Einzelnen frei entscheiden, zu welcher er gehören will; in- folge dessen genügt statt äuſserer Zwangsmittel schon das Gefühl der Ehre, um ihn an diejenigen Normen zu fesseln, deren es zum Bestande der Gruppe bedarf. Übrigens nimmt dieser Prozeſs nicht nur von der staatlichen Zwangsgewalt seinen Ursprung; überall, wo eine Gruppenmacht eine Anzahl von individuellen Lebensbeziehungen, die sachlich auſser Be- ziehung zu ihren Zwecken stehen, ursprünglich beherrscht — auch in der Familie, in der Zunft, in der religiösen Gemein- schaft u. s. w. —, giebt sie die Anlehnung und den Zusammen- schluſs in Bezug auf jene schlieſslich an besondere Vereine ab, an denen die Beteiligung Sache der persönlichen Freiheit ist, wodurch denn die Aufgabe der Socialisierung in viel voll- kommnerer Weise gelöst werden kann, als durch die frühere, die Individualität mehr vernachlässigende Vereinigung. Es kommt hinzu, daſs die undifferenzierte Herrschaft einer socialen Macht über den Menschen, wie ausgedehnt und streng sie auch sei, doch immer noch um eine Reihe von Lebensbeziehungen sich nicht kümmert und nicht kümmern kann, und daſs diese der rein individuellen Willkür um so sorgloser und bestimmungsloser überlassen werden, je gröſserer Zwang in den übrigen Beziehungen herrscht; so muſste der griechische und noch mehr der altrömische Bürger sich zwar in allen mit der Politik nur irgend im Zusammenhang stehenden Fragen den Normen und Zwecken seiner vaterländischen Ge- meinschaft bedingungslos unterordnen; aber er besaſs dafür als Herr seines Hauses eine um so unumschränktere Selbstherr- lichkeit; so giebt jener engste sociale Zusammenschluſs, wie wir ihn an den in kleinen Gruppen lebenden Naturvölkern beobachten, dem Einzelnen vollkommene Freiheit, sich gegen alle auſserhalb des Stammes stehenden Personen in jeder ihm beliebenden Weise zu benehmen; so findet der Despotismus häufig sein Korrelat und sogar seine Unterstützung in der vollkommensten Freiheit und selbst Zügellosigkeit der wenigen ihm nicht wichtigen Beziehungen der Persönlichkeiten. Nach

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/121>, abgerufen am 23.11.2024.