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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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losesten Vereinigung von Menschen zu einem gemeinsamen
Werk oder Gespräch, dem flüchtigsten Auftauchen einer Ver-
änderung in jedem von ihnen, die durch eine vom andern
ausgehende Kraft bewirkt wird -- und der umfassendsten
Einheit einer Klasse oder eines Volkes in Sitte, Sprache, po-
litischer Aktion. Man kann aber die Grenze des eigentlich
socialen Wesens vielleicht da erblicken, wo die Wechsel-
wirkung der Personen untereinander nicht nur in einem sub-
jektiven Zustand oder Handeln derselben besteht, sondern ein
objektives Gebilde zustande bringt, das eine gewisse Un-
abhängigkeit von den einzelnen daran teilhabenden Persön-
lichkeiten besitzt. Wo eine Vereinigung stattgefunden hat,
deren Formen beharren, wenngleich einzelne Mitglieder aus-
scheiden und neue eintreten; wo ein gemeinsamer äusserer
Besitz existiert, dessen Erwerb und über den die Verfügung
nicht Sache eines Einzelnen ist; wo eine Summe von Er-
kenntnissen und sittlichen Lebensinhalten vorhanden ist, die
durch die Teilnahme der Einzelnen weder vermehrt noch ver-
mindert werden, die, gewissermassen substantiell geworden,
für jeden bereit liegen, der daran teilhaben will; wo Recht,
Sitte, Verkehr Formen ausgebildet haben, denen jeder sich
fügt und fügen muss, der in ein gewisses räumliches Zusammen-
sein mit andern eintritt -- da überall ist Gesellschaft, da hat
die Wechselwirkung sich zu einem Körper verdichtet, der sie
eben als gesellschaftliche von derjenigen unterscheidet, die
mit den unmittelbar ins Spiel kommenden Subjekten und ihrem
augenblicklichen Verhalten verschwindet.

Man kann das Allgemeine in doppeltem Sinne verstehen:
als dasjenige, was, gewissermassen zwischen den Einzelnen
stehend, sie dadurch zusammenhält, dass zwar jeder daran
Teil hat, aber keiner es doch ganz und allein besitzt; oder
als dasjenige, was jeder besitzt und was nur durch den be-
ziehenden oder vergleichenden Geist als Allgemeines kon-
statiert wird. Zwischen beiden Bedeutungen aber, die man
die reale und die ideelle Allgemeinheit nennen könnte, be-
stehen sehr tief gelegene Beziehungen. Obgleich es nämlich
sehr wohl möglich ist, dass die letztere ohne die erstere vor-
kommt, so wird man doch wenigstens als heuristischen Grund-
satz annehmen können: wo sich gleiche Erscheinungen an
äusserlich in Berührung stehenden Individuen zeigen, ist von
vornherein eine gemeinsame Ursache anzunehmen; ent-
sprechend deduziert Laplace aus der Thatsache, dass die
Umläufe der Planeten sämtlich in einer Richtung und
fast in einer Ebene vor sich gehen, es müsse dem eine ge-
meinsame Ursache zu Grunde liegen, weil diese Überein-
stimmung bei gegenseitiger Unabhängigkeit ein nicht anzu-
nehmender Zufall wäre; so beruht die Entwicklungslehre
auf dem Gedanken, dass die Ahnlichkeiten aller Lebewesen

X 1.
losesten Vereinigung von Menschen zu einem gemeinsamen
Werk oder Gespräch, dem flüchtigsten Auftauchen einer Ver-
änderung in jedem von ihnen, die durch eine vom andern
ausgehende Kraft bewirkt wird — und der umfassendsten
Einheit einer Klasse oder eines Volkes in Sitte, Sprache, po-
litischer Aktion. Man kann aber die Grenze des eigentlich
socialen Wesens vielleicht da erblicken, wo die Wechsel-
wirkung der Personen untereinander nicht nur in einem sub-
jektiven Zustand oder Handeln derselben besteht, sondern ein
objektives Gebilde zustande bringt, das eine gewisse Un-
abhängigkeit von den einzelnen daran teilhabenden Persön-
lichkeiten besitzt. Wo eine Vereinigung stattgefunden hat,
deren Formen beharren, wenngleich einzelne Mitglieder aus-
scheiden und neue eintreten; wo ein gemeinsamer äuſserer
Besitz existiert, dessen Erwerb und über den die Verfügung
nicht Sache eines Einzelnen ist; wo eine Summe von Er-
kenntnissen und sittlichen Lebensinhalten vorhanden ist, die
durch die Teilnahme der Einzelnen weder vermehrt noch ver-
mindert werden, die, gewissermaſsen substantiell geworden,
für jeden bereit liegen, der daran teilhaben will; wo Recht,
Sitte, Verkehr Formen ausgebildet haben, denen jeder sich
fügt und fügen muſs, der in ein gewisses räumliches Zusammen-
sein mit andern eintritt — da überall ist Gesellschaft, da hat
die Wechselwirkung sich zu einem Körper verdichtet, der sie
eben als gesellschaftliche von derjenigen unterscheidet, die
mit den unmittelbar ins Spiel kommenden Subjekten und ihrem
augenblicklichen Verhalten verschwindet.

Man kann das Allgemeine in doppeltem Sinne verstehen:
als dasjenige, was, gewissermaſsen zwischen den Einzelnen
stehend, sie dadurch zusammenhält, daſs zwar jeder daran
Teil hat, aber keiner es doch ganz und allein besitzt; oder
als dasjenige, was jeder besitzt und was nur durch den be-
ziehenden oder vergleichenden Geist als Allgemeines kon-
statiert wird. Zwischen beiden Bedeutungen aber, die man
die reale und die ideelle Allgemeinheit nennen könnte, be-
stehen sehr tief gelegene Beziehungen. Obgleich es nämlich
sehr wohl möglich ist, daſs die letztere ohne die erstere vor-
kommt, so wird man doch wenigstens als heuristischen Grund-
satz annehmen können: wo sich gleiche Erscheinungen an
äuſserlich in Berührung stehenden Individuen zeigen, ist von
vornherein eine gemeinsame Ursache anzunehmen; ent-
sprechend deduziert Laplace aus der Thatsache, daſs die
Umläufe der Planeten sämtlich in einer Richtung und
fast in einer Ebene vor sich gehen, es müsse dem eine ge-
meinsame Ursache zu Grunde liegen, weil diese Überein-
stimmung bei gegenseitiger Unabhängigkeit ein nicht anzu-
nehmender Zufall wäre; so beruht die Entwicklungslehre
auf dem Gedanken, daſs die Ahnlichkeiten aller Lebewesen

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[16/0030] X 1. losesten Vereinigung von Menschen zu einem gemeinsamen Werk oder Gespräch, dem flüchtigsten Auftauchen einer Ver- änderung in jedem von ihnen, die durch eine vom andern ausgehende Kraft bewirkt wird — und der umfassendsten Einheit einer Klasse oder eines Volkes in Sitte, Sprache, po- litischer Aktion. Man kann aber die Grenze des eigentlich socialen Wesens vielleicht da erblicken, wo die Wechsel- wirkung der Personen untereinander nicht nur in einem sub- jektiven Zustand oder Handeln derselben besteht, sondern ein objektives Gebilde zustande bringt, das eine gewisse Un- abhängigkeit von den einzelnen daran teilhabenden Persön- lichkeiten besitzt. Wo eine Vereinigung stattgefunden hat, deren Formen beharren, wenngleich einzelne Mitglieder aus- scheiden und neue eintreten; wo ein gemeinsamer äuſserer Besitz existiert, dessen Erwerb und über den die Verfügung nicht Sache eines Einzelnen ist; wo eine Summe von Er- kenntnissen und sittlichen Lebensinhalten vorhanden ist, die durch die Teilnahme der Einzelnen weder vermehrt noch ver- mindert werden, die, gewissermaſsen substantiell geworden, für jeden bereit liegen, der daran teilhaben will; wo Recht, Sitte, Verkehr Formen ausgebildet haben, denen jeder sich fügt und fügen muſs, der in ein gewisses räumliches Zusammen- sein mit andern eintritt — da überall ist Gesellschaft, da hat die Wechselwirkung sich zu einem Körper verdichtet, der sie eben als gesellschaftliche von derjenigen unterscheidet, die mit den unmittelbar ins Spiel kommenden Subjekten und ihrem augenblicklichen Verhalten verschwindet. Man kann das Allgemeine in doppeltem Sinne verstehen: als dasjenige, was, gewissermaſsen zwischen den Einzelnen stehend, sie dadurch zusammenhält, daſs zwar jeder daran Teil hat, aber keiner es doch ganz und allein besitzt; oder als dasjenige, was jeder besitzt und was nur durch den be- ziehenden oder vergleichenden Geist als Allgemeines kon- statiert wird. Zwischen beiden Bedeutungen aber, die man die reale und die ideelle Allgemeinheit nennen könnte, be- stehen sehr tief gelegene Beziehungen. Obgleich es nämlich sehr wohl möglich ist, daſs die letztere ohne die erstere vor- kommt, so wird man doch wenigstens als heuristischen Grund- satz annehmen können: wo sich gleiche Erscheinungen an äuſserlich in Berührung stehenden Individuen zeigen, ist von vornherein eine gemeinsame Ursache anzunehmen; ent- sprechend deduziert Laplace aus der Thatsache, daſs die Umläufe der Planeten sämtlich in einer Richtung und fast in einer Ebene vor sich gehen, es müsse dem eine ge- meinsame Ursache zu Grunde liegen, weil diese Überein- stimmung bei gegenseitiger Unabhängigkeit ein nicht anzu- nehmender Zufall wäre; so beruht die Entwicklungslehre auf dem Gedanken, daſs die Ahnlichkeiten aller Lebewesen

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/30>, abgerufen am 21.11.2024.