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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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zeug, mit dem er sie ausgeführt hat, nur der Durchgangs-
punkt ist. Es liegt nun freilich nahe einzuwenden, dass die
den Einzelnen determinierende Verfassung der Gesellschaft
doch irgendwo von einzelnen ausgegangen sein müsse, an
denen dann die Schuld dieser schliesslichen Wirkung haften
bleibt; folglich könne doch das Individuum als solches schul-
dig werden, und einen wie grossen Teil seiner Verantwortung
es auch auf die Gesellschaft abwälze, so gelänge dies nicht
vollständig, weil die Gesellschaft doch aus Individuen besteht
und deshalb nicht schuldig sein könnte, wenn diese es nicht
wären; zu jeder unvollkommenen und ungerechten socialen
Einrichtung, die den in sie Hineingeborenen auf die Bahn
des Verbrechens drängen mag, muss doch der Anstoss von
einem einzelnen ausgegangen sein; jede Vererbung, die den
Keim eines Lasters in uns legt, ist doch nicht von Ewigkeit
her vorhanden, sondern muss ihren Ursprung in irgend einem
primären Verhalten eines Vorfahren haben. Und wenn nun
auch die Mehrzahl der Fäden, von denen das Handeln des
Individuums geleitet wird, von früheren Generationen her
angesponnen sei, so gehen doch auch von ihm wiederum neue
aus, die die künftigen Geschlechter mitbestimmen; und die
Verantwortung für diese müsse gerade um so schärfer betont
werden, je tiefer man davon durchdrungen sei, dass keine
That innerhalb des socialen Kosmos folgenlos bleibe, dass die
Wirkung einer individuellen Unsittlichkeit sich bis ins tau-
sendste Glied geltend mache. Wenn also auch die sociale
Bestimmtheit, nach der Vergangenheit hin betrachtet, den
Einzelnen entlastet, so belastet sie ihn in demselben Masse
schwerer, wenn man nach der Zukunft zu blickt, deren
Kausalgewebe eben deshalb ein immer komplizierteres, das
Individuum immer vielseitiger bestimmendes werden kann,
weil jeder Einzelne zu der Gattungserbschaft ein Teil hinzu-
gefügt hat, da es sonst zu einer solchen überhaupt nicht ge-
kommen wäre.

Ohne hier in den Streit über die Prinzipien einzutreten,
der das Schicksal der Unfruchtbarkeit mit allen Diskussionen
über die Freiheit teilen müsste, will ich hier nur auf den fol-
genden Gesichtspunkt hinweisen. Die Folgen einer That
wechseln leicht ihren Charakter auf das vollkommenste, wenn
sie sich von den persönlichen Verhältnissen oder dem kleinen
Kreise, auf den sie sich zuerst und in der Absicht des Han-
delnden beziehen, auf einen grösseren Kreis verbreiten.
Wenn z. B. die Bestrebungen der Kirche, die Gesamtheit
auch der irdischen Lebensinteressen sich unterthänig zu
machen, als unrecht verurteilt werden, so kann zunächst, so-
bald sich die Anschuldigung gegen bestimmte Personen etwa
des Mittelalters richtet, erwidert werden, dass hier eine Tra-
dition von den ältesten Zeiten des Christentums her vorlag,

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zeug, mit dem er sie ausgeführt hat, nur der Durchgangs-
punkt ist. Es liegt nun freilich nahe einzuwenden, daſs die
den Einzelnen determinierende Verfassung der Gesellschaft
doch irgendwo von einzelnen ausgegangen sein müsse, an
denen dann die Schuld dieser schlieſslichen Wirkung haften
bleibt; folglich könne doch das Individuum als solches schul-
dig werden, und einen wie groſsen Teil seiner Verantwortung
es auch auf die Gesellschaft abwälze, so gelänge dies nicht
vollständig, weil die Gesellschaft doch aus Individuen besteht
und deshalb nicht schuldig sein könnte, wenn diese es nicht
wären; zu jeder unvollkommenen und ungerechten socialen
Einrichtung, die den in sie Hineingeborenen auf die Bahn
des Verbrechens drängen mag, muſs doch der Anstoſs von
einem einzelnen ausgegangen sein; jede Vererbung, die den
Keim eines Lasters in uns legt, ist doch nicht von Ewigkeit
her vorhanden, sondern muſs ihren Ursprung in irgend einem
primären Verhalten eines Vorfahren haben. Und wenn nun
auch die Mehrzahl der Fäden, von denen das Handeln des
Individuums geleitet wird, von früheren Generationen her
angesponnen sei, so gehen doch auch von ihm wiederum neue
aus, die die künftigen Geschlechter mitbestimmen; und die
Verantwortung für diese müsse gerade um so schärfer betont
werden, je tiefer man davon durchdrungen sei, daſs keine
That innerhalb des socialen Kosmos folgenlos bleibe, daſs die
Wirkung einer individuellen Unsittlichkeit sich bis ins tau-
sendste Glied geltend mache. Wenn also auch die sociale
Bestimmtheit, nach der Vergangenheit hin betrachtet, den
Einzelnen entlastet, so belastet sie ihn in demselben Maſse
schwerer, wenn man nach der Zukunft zu blickt, deren
Kausalgewebe eben deshalb ein immer komplizierteres, das
Individuum immer vielseitiger bestimmendes werden kann,
weil jeder Einzelne zu der Gattungserbschaft ein Teil hinzu-
gefügt hat, da es sonst zu einer solchen überhaupt nicht ge-
kommen wäre.

Ohne hier in den Streit über die Prinzipien einzutreten,
der das Schicksal der Unfruchtbarkeit mit allen Diskussionen
über die Freiheit teilen müſste, will ich hier nur auf den fol-
genden Gesichtspunkt hinweisen. Die Folgen einer That
wechseln leicht ihren Charakter auf das vollkommenste, wenn
sie sich von den persönlichen Verhältnissen oder dem kleinen
Kreise, auf den sie sich zuerst und in der Absicht des Han-
delnden beziehen, auf einen gröſseren Kreis verbreiten.
Wenn z. B. die Bestrebungen der Kirche, die Gesamtheit
auch der irdischen Lebensinteressen sich unterthänig zu
machen, als unrecht verurteilt werden, so kann zunächst, so-
bald sich die Anschuldigung gegen bestimmte Personen etwa
des Mittelalters richtet, erwidert werden, daſs hier eine Tra-
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[37/0051] X 1. zeug, mit dem er sie ausgeführt hat, nur der Durchgangs- punkt ist. Es liegt nun freilich nahe einzuwenden, daſs die den Einzelnen determinierende Verfassung der Gesellschaft doch irgendwo von einzelnen ausgegangen sein müsse, an denen dann die Schuld dieser schlieſslichen Wirkung haften bleibt; folglich könne doch das Individuum als solches schul- dig werden, und einen wie groſsen Teil seiner Verantwortung es auch auf die Gesellschaft abwälze, so gelänge dies nicht vollständig, weil die Gesellschaft doch aus Individuen besteht und deshalb nicht schuldig sein könnte, wenn diese es nicht wären; zu jeder unvollkommenen und ungerechten socialen Einrichtung, die den in sie Hineingeborenen auf die Bahn des Verbrechens drängen mag, muſs doch der Anstoſs von einem einzelnen ausgegangen sein; jede Vererbung, die den Keim eines Lasters in uns legt, ist doch nicht von Ewigkeit her vorhanden, sondern muſs ihren Ursprung in irgend einem primären Verhalten eines Vorfahren haben. Und wenn nun auch die Mehrzahl der Fäden, von denen das Handeln des Individuums geleitet wird, von früheren Generationen her angesponnen sei, so gehen doch auch von ihm wiederum neue aus, die die künftigen Geschlechter mitbestimmen; und die Verantwortung für diese müsse gerade um so schärfer betont werden, je tiefer man davon durchdrungen sei, daſs keine That innerhalb des socialen Kosmos folgenlos bleibe, daſs die Wirkung einer individuellen Unsittlichkeit sich bis ins tau- sendste Glied geltend mache. Wenn also auch die sociale Bestimmtheit, nach der Vergangenheit hin betrachtet, den Einzelnen entlastet, so belastet sie ihn in demselben Maſse schwerer, wenn man nach der Zukunft zu blickt, deren Kausalgewebe eben deshalb ein immer komplizierteres, das Individuum immer vielseitiger bestimmendes werden kann, weil jeder Einzelne zu der Gattungserbschaft ein Teil hinzu- gefügt hat, da es sonst zu einer solchen überhaupt nicht ge- kommen wäre. Ohne hier in den Streit über die Prinzipien einzutreten, der das Schicksal der Unfruchtbarkeit mit allen Diskussionen über die Freiheit teilen müſste, will ich hier nur auf den fol- genden Gesichtspunkt hinweisen. Die Folgen einer That wechseln leicht ihren Charakter auf das vollkommenste, wenn sie sich von den persönlichen Verhältnissen oder dem kleinen Kreise, auf den sie sich zuerst und in der Absicht des Han- delnden beziehen, auf einen gröſseren Kreis verbreiten. Wenn z. B. die Bestrebungen der Kirche, die Gesamtheit auch der irdischen Lebensinteressen sich unterthänig zu machen, als unrecht verurteilt werden, so kann zunächst, so- bald sich die Anschuldigung gegen bestimmte Personen etwa des Mittelalters richtet, erwidert werden, daſs hier eine Tra- dition von den ältesten Zeiten des Christentums her vorlag,

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/51>, abgerufen am 23.11.2024.