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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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die der Einzelne als undurchbrechliche Tendenz, selbstver-
ständliches Dogma, vorfand, so dass auf jenen frühsten Per-
sönlichkeiten, die sie ausbildeten, aber nicht auf dem einzel-
nen Epigonen, den sie ohne weiteres in ihren Bann zwang,
die Schuld haften bleibt. Allein für jene war es eben keine
Schuld, weil in den kleinen urchristlichen Gemeinden die voll-
kommene Durchdringung des Lebens mit der religiösen Idee, die
Hingabe alles Seins und Habens an das christliche Interesse
eine durchaus sittliche, für den Bestand jener Gemeinden un-
entbehrliche Anforderung war, die auch den Kulturinteressen
solange unschädlich blieb, als es noch anderweitige, hinreichend
grosse Kreise gab, die sich der Besorgung der irdischen
Dinge widmeten. Das änderte sich erst mit der Verbreitung
der christlichen Religion; würde diejenige Lebensform, die in
der kleinen Gemeinde zu rechte bestand, sich über die Ge-
samtheit des Staates erstrecken, so würde damit eine Reihe
von Interessen verletzt, die für durchaus unentbehrlich, deren
Verdrängung durch die kirchliche Herrschaft für unsittlich
gehalten wird. Eben dieselbe Tendenz also, die bei einer ge-
ringen Ausdehnung des socialen Kreises verdienstvoll ist,
wird durch dessen Erweiterung schuldvoll; und wird nun im
letzteren Falle die Schuld vom Einzelnen fortgeschoben, indem
sie durch die Tradition erklärt wird, so liegt auf der Hand,
dass sie nicht auf jenen Ersten, von denen die Tradition aus-
ging, haften bleibt, sondern ihre Veranlassung ausschliesslich
in der Quantitätsänderung des gesellschaftlichen Kreises hat.
Es ist eine der Untersuchung noch sehr bedürftige Frage, in
wiefern die blos numerische Vermehrung eines Kreises die
sittliche Qualität der auf ihn bezüglichen Handlungen ab-
ändert. Da es aber zweifellos der Fall ist, können Schuld
und Verdienst, die der Handlung in einem kleineren Kreise
zukommen, oft bei Erweiterung desselben in ihr direktes
Gegenteil verwandelt werden, ohne dass die nun geltende
sittliche Qualifikation der Handlung einer persönlichen Ver-
antwortung unterläge, weil sie dem Inhalt nach blos über-
liefert ist, die Abänderung ihres Wertes aber von keinem
einzelnen Menschen, sondern nur von dem Zusammen der-
selben ausgeht. Wir finden z. B. in dem Berglande von
Tibet noch jetzt Polyandrie herrschend, und zwar offenbar,
wie selbst Missionäre anerkennen, zum gesellschaftlichen
Wohle; denn der Boden ist dort so unfruchtbar, dass ein
rasches Anwachsen der Bevölkerung nur das grösste allge-
meine Elend hervorbringen würde. Um dieses aber zurück-
zuhalten, ist die Polyandrie ein vortreffliches Mittel; auch
sind die Männer dort oft genötigt, um entfernte Herden zu
weiden oder Handel zu treiben, sich lange von der Heimat
zu entfernen, und da wird denn der Umstand, dass von meh-
reren Männern einer Frau wenigstens einer immer zu Hause

X 1.
die der Einzelne als undurchbrechliche Tendenz, selbstver-
ständliches Dogma, vorfand, so daſs auf jenen frühsten Per-
sönlichkeiten, die sie ausbildeten, aber nicht auf dem einzel-
nen Epigonen, den sie ohne weiteres in ihren Bann zwang,
die Schuld haften bleibt. Allein für jene war es eben keine
Schuld, weil in den kleinen urchristlichen Gemeinden die voll-
kommene Durchdringung des Lebens mit der religiösen Idee, die
Hingabe alles Seins und Habens an das christliche Interesse
eine durchaus sittliche, für den Bestand jener Gemeinden un-
entbehrliche Anforderung war, die auch den Kulturinteressen
solange unschädlich blieb, als es noch anderweitige, hinreichend
groſse Kreise gab, die sich der Besorgung der irdischen
Dinge widmeten. Das änderte sich erst mit der Verbreitung
der christlichen Religion; würde diejenige Lebensform, die in
der kleinen Gemeinde zu rechte bestand, sich über die Ge-
samtheit des Staates erstrecken, so würde damit eine Reihe
von Interessen verletzt, die für durchaus unentbehrlich, deren
Verdrängung durch die kirchliche Herrschaft für unsittlich
gehalten wird. Eben dieselbe Tendenz also, die bei einer ge-
ringen Ausdehnung des socialen Kreises verdienstvoll ist,
wird durch dessen Erweiterung schuldvoll; und wird nun im
letzteren Falle die Schuld vom Einzelnen fortgeschoben, indem
sie durch die Tradition erklärt wird, so liegt auf der Hand,
daſs sie nicht auf jenen Ersten, von denen die Tradition aus-
ging, haften bleibt, sondern ihre Veranlassung ausschlieſslich
in der Quantitätsänderung des gesellschaftlichen Kreises hat.
Es ist eine der Untersuchung noch sehr bedürftige Frage, in
wiefern die blos numerische Vermehrung eines Kreises die
sittliche Qualität der auf ihn bezüglichen Handlungen ab-
ändert. Da es aber zweifellos der Fall ist, können Schuld
und Verdienst, die der Handlung in einem kleineren Kreise
zukommen, oft bei Erweiterung desselben in ihr direktes
Gegenteil verwandelt werden, ohne daſs die nun geltende
sittliche Qualifikation der Handlung einer persönlichen Ver-
antwortung unterläge, weil sie dem Inhalt nach blos über-
liefert ist, die Abänderung ihres Wertes aber von keinem
einzelnen Menschen, sondern nur von dem Zusammen der-
selben ausgeht. Wir finden z. B. in dem Berglande von
Tibet noch jetzt Polyandrie herrschend, und zwar offenbar,
wie selbst Missionäre anerkennen, zum gesellschaftlichen
Wohle; denn der Boden ist dort so unfruchtbar, daſs ein
rasches Anwachsen der Bevölkerung nur das gröſste allge-
meine Elend hervorbringen würde. Um dieses aber zurück-
zuhalten, ist die Polyandrie ein vortreffliches Mittel; auch
sind die Männer dort oft genötigt, um entfernte Herden zu
weiden oder Handel zu treiben, sich lange von der Heimat
zu entfernen, und da wird denn der Umstand, daſs von meh-
reren Männern einer Frau wenigstens einer immer zu Hause

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[38/0052] X 1. die der Einzelne als undurchbrechliche Tendenz, selbstver- ständliches Dogma, vorfand, so daſs auf jenen frühsten Per- sönlichkeiten, die sie ausbildeten, aber nicht auf dem einzel- nen Epigonen, den sie ohne weiteres in ihren Bann zwang, die Schuld haften bleibt. Allein für jene war es eben keine Schuld, weil in den kleinen urchristlichen Gemeinden die voll- kommene Durchdringung des Lebens mit der religiösen Idee, die Hingabe alles Seins und Habens an das christliche Interesse eine durchaus sittliche, für den Bestand jener Gemeinden un- entbehrliche Anforderung war, die auch den Kulturinteressen solange unschädlich blieb, als es noch anderweitige, hinreichend groſse Kreise gab, die sich der Besorgung der irdischen Dinge widmeten. Das änderte sich erst mit der Verbreitung der christlichen Religion; würde diejenige Lebensform, die in der kleinen Gemeinde zu rechte bestand, sich über die Ge- samtheit des Staates erstrecken, so würde damit eine Reihe von Interessen verletzt, die für durchaus unentbehrlich, deren Verdrängung durch die kirchliche Herrschaft für unsittlich gehalten wird. Eben dieselbe Tendenz also, die bei einer ge- ringen Ausdehnung des socialen Kreises verdienstvoll ist, wird durch dessen Erweiterung schuldvoll; und wird nun im letzteren Falle die Schuld vom Einzelnen fortgeschoben, indem sie durch die Tradition erklärt wird, so liegt auf der Hand, daſs sie nicht auf jenen Ersten, von denen die Tradition aus- ging, haften bleibt, sondern ihre Veranlassung ausschlieſslich in der Quantitätsänderung des gesellschaftlichen Kreises hat. Es ist eine der Untersuchung noch sehr bedürftige Frage, in wiefern die blos numerische Vermehrung eines Kreises die sittliche Qualität der auf ihn bezüglichen Handlungen ab- ändert. Da es aber zweifellos der Fall ist, können Schuld und Verdienst, die der Handlung in einem kleineren Kreise zukommen, oft bei Erweiterung desselben in ihr direktes Gegenteil verwandelt werden, ohne daſs die nun geltende sittliche Qualifikation der Handlung einer persönlichen Ver- antwortung unterläge, weil sie dem Inhalt nach blos über- liefert ist, die Abänderung ihres Wertes aber von keinem einzelnen Menschen, sondern nur von dem Zusammen der- selben ausgeht. Wir finden z. B. in dem Berglande von Tibet noch jetzt Polyandrie herrschend, und zwar offenbar, wie selbst Missionäre anerkennen, zum gesellschaftlichen Wohle; denn der Boden ist dort so unfruchtbar, daſs ein rasches Anwachsen der Bevölkerung nur das gröſste allge- meine Elend hervorbringen würde. Um dieses aber zurück- zuhalten, ist die Polyandrie ein vortreffliches Mittel; auch sind die Männer dort oft genötigt, um entfernte Herden zu weiden oder Handel zu treiben, sich lange von der Heimat zu entfernen, und da wird denn der Umstand, daſs von meh- reren Männern einer Frau wenigstens einer immer zu Hause

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/52>, abgerufen am 24.11.2024.