Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite
X 1.

Man könnte vielleicht das ganze Verhältnis, das wir hier
meinen und das in den mannichfachsten Modis des Zugleich,
des Nacheinander, des Entweder-Oder Gestalt gewinnt, sym-
bolisch so ausdrücken, dass die engere Gruppe gewissermassen
eine mittlere Proportionale zwischen der erweiterten und der
Individualität bildet, so dass jene, in sich geschlossen und
keines weiteren Faktors bedürfend, das gleiche Resultat der
Lebensmöglichkeit ergiebt, das aus dem Zusammen der beiden
letzteren hervorgeht. So hatte z. B. die Allgewalt des römi-
schen Staatsbegriffes zum Korrelat, dass es neben dem ius
publicum ein ius privatum gab; die für sich ausgeprägte Ver-
haltungsnorm jenes allumfassenden Ganzen forderte eine ent-
sprechende für die Individuen, die es in sich schloss. Es gab
nur die Gemeinschaft im grössten Sinne einerseits und die
einzelne Person andererseits; das älteste römische Recht kennt
keine Korporationen, und dieser Geist bleibt ihm im allge-
meinen. Umgekehrt giebt es im deutschen Recht keine
andern Rechtsgrundsätze für die Gemeinschaft wie für die
Einzelnen; aber diese Allgemeinheiten sind nun auch nicht
die allumfassenden des römischen Staates, sondern kleinere,
durch die wechselnden und mannichfaltigen Bedürfnisse der
Einzelnen hervorgerufene. In kleineren Gemeinwesen bedarf
es nicht jener Abtrennung des öffentlichen Rechts vom pri-
vaten, weil das Individuum in ihnen inniger mit dem Ganzen
verbunden ist.

Es ist nur eine Folge des Gedankens einer solchen Be-
ziehung zwischen Individuellem und Socialem, wenn wir sagen:
je mehr statt des Menschen als Socialelementes der Mensch
als Individuum und damit diejenigen Eigenschaften, die ihm
bloss als Menschen zukommen, in den Vordergrund des
Interesses treten, desto enger muss die Verbindung sein, die
ihn gleichsam über den Kopf seiner socialen Gruppe hinweg
zu allem, was überhaupt Mensch ist, hinzieht und ihm den
Gedanken einer idealen Einheit der Menschenwelt nahe legt.
Für diese Korrelation liefert die stoische Lehre ein deutliches
Beispiel. Während der politisch-sociale Zusammenhang, in
dem der Einzelne steht, noch bei Aristoteles den Quellpunkt
der ethischen Bestimmungen bildet, heftet sich das stoische
Interesse, was das Praktische betrifft, eigentlich nur an die
Einzelperson, und die Heranbildung des Individuums zu dem
Ideale, welches das System vorschrieb, wurde so ausschliesslich
zur Aegide der stoischen Praxis, dass der Zusammenhang der
Individuen untereinander nur als Mittel zu jenem idealen in-
dividualistischen Zweck erscheint. Aber dieser freilich wird
seinem Inhalt nach von der Idee einer allgemeinen, durch alles
Einzelne hindurchgehenden Vernunft bestimmt. Und an dieser
Vernunft, deren Realisierung im Individuum das stoische Ideal
bildet, hat jeder Mensch Teil; sie schlingt, über alle Schranken

X 1.

Man könnte vielleicht das ganze Verhältnis, das wir hier
meinen und das in den mannichfachsten Modis des Zugleich,
des Nacheinander, des Entweder-Oder Gestalt gewinnt, sym-
bolisch so ausdrücken, daſs die engere Gruppe gewissermaſsen
eine mittlere Proportionale zwischen der erweiterten und der
Individualität bildet, so daſs jene, in sich geschlossen und
keines weiteren Faktors bedürfend, das gleiche Resultat der
Lebensmöglichkeit ergiebt, das aus dem Zusammen der beiden
letzteren hervorgeht. So hatte z. B. die Allgewalt des römi-
schen Staatsbegriffes zum Korrelat, daſs es neben dem ius
publicum ein ius privatum gab; die für sich ausgeprägte Ver-
haltungsnorm jenes allumfassenden Ganzen forderte eine ent-
sprechende für die Individuen, die es in sich schloſs. Es gab
nur die Gemeinschaft im gröſsten Sinne einerseits und die
einzelne Person andererseits; das älteste römische Recht kennt
keine Korporationen, und dieser Geist bleibt ihm im allge-
meinen. Umgekehrt giebt es im deutschen Recht keine
andern Rechtsgrundsätze für die Gemeinschaft wie für die
Einzelnen; aber diese Allgemeinheiten sind nun auch nicht
die allumfassenden des römischen Staates, sondern kleinere,
durch die wechselnden und mannichfaltigen Bedürfnisse der
Einzelnen hervorgerufene. In kleineren Gemeinwesen bedarf
es nicht jener Abtrennung des öffentlichen Rechts vom pri-
vaten, weil das Individuum in ihnen inniger mit dem Ganzen
verbunden ist.

Es ist nur eine Folge des Gedankens einer solchen Be-
ziehung zwischen Individuellem und Socialem, wenn wir sagen:
je mehr statt des Menschen als Socialelementes der Mensch
als Individuum und damit diejenigen Eigenschaften, die ihm
bloſs als Menschen zukommen, in den Vordergrund des
Interesses treten, desto enger muſs die Verbindung sein, die
ihn gleichsam über den Kopf seiner socialen Gruppe hinweg
zu allem, was überhaupt Mensch ist, hinzieht und ihm den
Gedanken einer idealen Einheit der Menschenwelt nahe legt.
Für diese Korrelation liefert die stoische Lehre ein deutliches
Beispiel. Während der politisch-sociale Zusammenhang, in
dem der Einzelne steht, noch bei Aristoteles den Quellpunkt
der ethischen Bestimmungen bildet, heftet sich das stoische
Interesse, was das Praktische betrifft, eigentlich nur an die
Einzelperson, und die Heranbildung des Individuums zu dem
Ideale, welches das System vorschrieb, wurde so ausschlieſslich
zur Aegide der stoischen Praxis, daſs der Zusammenhang der
Individuen untereinander nur als Mittel zu jenem idealen in-
dividualistischen Zweck erscheint. Aber dieser freilich wird
seinem Inhalt nach von der Idee einer allgemeinen, durch alles
Einzelne hindurchgehenden Vernunft bestimmt. Und an dieser
Vernunft, deren Realisierung im Individuum das stoische Ideal
bildet, hat jeder Mensch Teil; sie schlingt, über alle Schranken

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0069" n="55"/>
        <fw place="top" type="header">X 1.</fw><lb/>
        <p>Man könnte vielleicht das ganze Verhältnis, das wir hier<lb/>
meinen und das in den mannichfachsten Modis des Zugleich,<lb/>
des Nacheinander, des Entweder-Oder Gestalt gewinnt, sym-<lb/>
bolisch so ausdrücken, da&#x017F;s die engere Gruppe gewisserma&#x017F;sen<lb/>
eine mittlere Proportionale zwischen der erweiterten und der<lb/>
Individualität bildet, so da&#x017F;s jene, in sich geschlossen und<lb/>
keines weiteren Faktors bedürfend, das gleiche Resultat der<lb/>
Lebensmöglichkeit ergiebt, das aus dem Zusammen der beiden<lb/>
letzteren hervorgeht. So hatte z. B. die Allgewalt des römi-<lb/>
schen Staatsbegriffes zum Korrelat, da&#x017F;s es neben dem ius<lb/>
publicum ein ius privatum gab; die für sich ausgeprägte Ver-<lb/>
haltungsnorm jenes allumfassenden Ganzen forderte eine ent-<lb/>
sprechende für die Individuen, die es in sich schlo&#x017F;s. Es gab<lb/>
nur die Gemeinschaft im grö&#x017F;sten Sinne einerseits und die<lb/>
einzelne Person andererseits; das älteste römische Recht kennt<lb/>
keine Korporationen, und dieser Geist bleibt ihm im allge-<lb/>
meinen. Umgekehrt giebt es im deutschen Recht keine<lb/>
andern Rechtsgrundsätze für die Gemeinschaft wie für die<lb/>
Einzelnen; aber diese Allgemeinheiten sind nun auch nicht<lb/>
die allumfassenden des römischen Staates, sondern kleinere,<lb/>
durch die wechselnden und mannichfaltigen Bedürfnisse der<lb/>
Einzelnen hervorgerufene. In kleineren Gemeinwesen bedarf<lb/>
es nicht jener Abtrennung des öffentlichen Rechts vom pri-<lb/>
vaten, weil das Individuum in ihnen inniger mit dem Ganzen<lb/>
verbunden ist.</p><lb/>
        <p>Es ist nur eine Folge des Gedankens einer solchen Be-<lb/>
ziehung zwischen Individuellem und Socialem, wenn wir sagen:<lb/>
je mehr statt des Menschen als Socialelementes der Mensch<lb/>
als Individuum und damit diejenigen Eigenschaften, die ihm<lb/>
blo&#x017F;s als Menschen zukommen, in den Vordergrund des<lb/>
Interesses treten, desto enger mu&#x017F;s die Verbindung sein, die<lb/>
ihn gleichsam über den Kopf seiner socialen Gruppe hinweg<lb/>
zu allem, was überhaupt Mensch ist, hinzieht und ihm den<lb/>
Gedanken einer idealen Einheit der Menschenwelt nahe legt.<lb/>
Für diese Korrelation liefert die stoische Lehre ein deutliches<lb/>
Beispiel. Während der politisch-sociale Zusammenhang, in<lb/>
dem der Einzelne steht, noch bei Aristoteles den Quellpunkt<lb/>
der ethischen Bestimmungen bildet, heftet sich das stoische<lb/>
Interesse, was das Praktische betrifft, eigentlich nur an die<lb/>
Einzelperson, und die Heranbildung des Individuums zu dem<lb/>
Ideale, welches das System vorschrieb, wurde so ausschlie&#x017F;slich<lb/>
zur Aegide der stoischen Praxis, da&#x017F;s der Zusammenhang der<lb/>
Individuen untereinander nur als Mittel zu jenem idealen in-<lb/>
dividualistischen Zweck erscheint. Aber dieser freilich wird<lb/>
seinem Inhalt nach von der Idee einer allgemeinen, durch alles<lb/>
Einzelne hindurchgehenden Vernunft bestimmt. Und an dieser<lb/>
Vernunft, deren Realisierung im Individuum das stoische Ideal<lb/>
bildet, hat jeder Mensch Teil; sie schlingt, über alle Schranken<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[55/0069] X 1. Man könnte vielleicht das ganze Verhältnis, das wir hier meinen und das in den mannichfachsten Modis des Zugleich, des Nacheinander, des Entweder-Oder Gestalt gewinnt, sym- bolisch so ausdrücken, daſs die engere Gruppe gewissermaſsen eine mittlere Proportionale zwischen der erweiterten und der Individualität bildet, so daſs jene, in sich geschlossen und keines weiteren Faktors bedürfend, das gleiche Resultat der Lebensmöglichkeit ergiebt, das aus dem Zusammen der beiden letzteren hervorgeht. So hatte z. B. die Allgewalt des römi- schen Staatsbegriffes zum Korrelat, daſs es neben dem ius publicum ein ius privatum gab; die für sich ausgeprägte Ver- haltungsnorm jenes allumfassenden Ganzen forderte eine ent- sprechende für die Individuen, die es in sich schloſs. Es gab nur die Gemeinschaft im gröſsten Sinne einerseits und die einzelne Person andererseits; das älteste römische Recht kennt keine Korporationen, und dieser Geist bleibt ihm im allge- meinen. Umgekehrt giebt es im deutschen Recht keine andern Rechtsgrundsätze für die Gemeinschaft wie für die Einzelnen; aber diese Allgemeinheiten sind nun auch nicht die allumfassenden des römischen Staates, sondern kleinere, durch die wechselnden und mannichfaltigen Bedürfnisse der Einzelnen hervorgerufene. In kleineren Gemeinwesen bedarf es nicht jener Abtrennung des öffentlichen Rechts vom pri- vaten, weil das Individuum in ihnen inniger mit dem Ganzen verbunden ist. Es ist nur eine Folge des Gedankens einer solchen Be- ziehung zwischen Individuellem und Socialem, wenn wir sagen: je mehr statt des Menschen als Socialelementes der Mensch als Individuum und damit diejenigen Eigenschaften, die ihm bloſs als Menschen zukommen, in den Vordergrund des Interesses treten, desto enger muſs die Verbindung sein, die ihn gleichsam über den Kopf seiner socialen Gruppe hinweg zu allem, was überhaupt Mensch ist, hinzieht und ihm den Gedanken einer idealen Einheit der Menschenwelt nahe legt. Für diese Korrelation liefert die stoische Lehre ein deutliches Beispiel. Während der politisch-sociale Zusammenhang, in dem der Einzelne steht, noch bei Aristoteles den Quellpunkt der ethischen Bestimmungen bildet, heftet sich das stoische Interesse, was das Praktische betrifft, eigentlich nur an die Einzelperson, und die Heranbildung des Individuums zu dem Ideale, welches das System vorschrieb, wurde so ausschlieſslich zur Aegide der stoischen Praxis, daſs der Zusammenhang der Individuen untereinander nur als Mittel zu jenem idealen in- dividualistischen Zweck erscheint. Aber dieser freilich wird seinem Inhalt nach von der Idee einer allgemeinen, durch alles Einzelne hindurchgehenden Vernunft bestimmt. Und an dieser Vernunft, deren Realisierung im Individuum das stoische Ideal bildet, hat jeder Mensch Teil; sie schlingt, über alle Schranken

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/69
Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/69>, abgerufen am 25.11.2024.