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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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X 1.
der Nationalität und der socialen Abgrenzung hinweg, ein
Band der Gleichheit und Brüderlichkeit um alles, was Mensch
heisst. Und so hat denn der Individualismus der Stoiker
ihren Kosmopolitismus zum Komplement; die Sprengung der
engeren socialen Bande, in jener Epoche nicht weniger durch
die politischen Verhältnisse wie durch theoretische Überlegung
begünstigt, schob, unserm vorangestellten Prinzip zufolge,
den Schwerpunkt des ethischen Interesses einerseits nach dem
Individuum hin, andererseits nach jenem weitesten Kreise, dem
jedes menschliche Individuum als solches angehört. Dass die
Lehre von der Gleichheit aller Menschen häufige Verbindungen
mit einem extremen Individualismus eingeht, verstehen wir
aus diesem und den folgenden Gründen. Es liegt psycholo-
gisch nahe genug, dass die furchtbare Ungleichheit, in welche
der Einzelne in gewissen Epochen der Socialgeschichte hinein-
geboren wurde, die Reaktion nach zwei Seiten hin entfesselte:
sowohl nach der Seite des Rechts der Individualität, wie
nach der der allgemeinen Gleichheit; denn beides pflegt im
gleichen Grade den grösseren Massen zu kurz zu kommen.
Nur aus diesem zweiseitigen Zusammenhange heraus ist eine
Erscheinung wie Rousseau zu verstehen; und die steigende
Entwicklung der allgemeinen Schulbildung zeigt dieselbe
Tendenz: sie will einerseits die schroffen Unterschiede der
geistigen Niveaus beseitigen und gerade durch die Herstellung
einer gewissen Gleichheit jedem Einzelnen die früher versagte
Möglichkeit zur Geltendmachung seiner individuellen Be-
fähigungen gewähren. Ich glaube sogar, dass die Vorstellung
der allgemeinen Gleichheit psychologisch durch nichts mehr
gefördert werden kann, als durch ein scharfes Bewusstsein
von dem Wesen und dem Werte der Individualität, von der
Thatsache, dass jeder Mensch doch ein Individuum mit cha-
rakteristischen, in genau dieser Zusammensetzung nicht zum
zweiten Male auffindbaren Eigenschaften ist; gleichviel wie
diese Eigenschaften inhaltlich beschaffen seien: die Form der
Individualität kommt doch jedem Menschen zu und bestimmt
seinen Wert gemäss dem Seltenheitsmoment. Hierdurch wird
eine formale Gleichheit geschaffen; gerade wenn jeder etwas
Besonderes ist, ist er insoweit jedem andern gleich. Und das
Dogma vom absoluten Ich, von der persönlichen unsterblichen
Seele, die jedem Menschen eigen sei, musste mehr als alles
andere zu der Vorstellung der allgemeinen Gleichheit bei-
tragen, weil die empirischen Unterschiede, die man im Inhalte
der Seelen vorfindet, gegenüber ihren ewigen und absoluten
Qualitäten, in denen sie gleich sind, nicht in Betracht kommen.
Wenn man von dem socialistischen Charakter des Urchristen-
tums gesprochen hat, so geht dieser vielleicht weniger aus
positiven Gründen, als aus den negativen der vollständigen
Gleichgiltigkeit hervor, die die ersten Christen alledem

X 1.
der Nationalität und der socialen Abgrenzung hinweg, ein
Band der Gleichheit und Brüderlichkeit um alles, was Mensch
heiſst. Und so hat denn der Individualismus der Stoiker
ihren Kosmopolitismus zum Komplement; die Sprengung der
engeren socialen Bande, in jener Epoche nicht weniger durch
die politischen Verhältnisse wie durch theoretische Überlegung
begünstigt, schob, unserm vorangestellten Prinzip zufolge,
den Schwerpunkt des ethischen Interesses einerseits nach dem
Individuum hin, andererseits nach jenem weitesten Kreise, dem
jedes menschliche Individuum als solches angehört. Daſs die
Lehre von der Gleichheit aller Menschen häufige Verbindungen
mit einem extremen Individualismus eingeht, verstehen wir
aus diesem und den folgenden Gründen. Es liegt psycholo-
gisch nahe genug, daſs die furchtbare Ungleichheit, in welche
der Einzelne in gewissen Epochen der Socialgeschichte hinein-
geboren wurde, die Reaktion nach zwei Seiten hin entfesselte:
sowohl nach der Seite des Rechts der Individualität, wie
nach der der allgemeinen Gleichheit; denn beides pflegt im
gleichen Grade den gröſseren Massen zu kurz zu kommen.
Nur aus diesem zweiseitigen Zusammenhange heraus ist eine
Erscheinung wie Rousseau zu verstehen; und die steigende
Entwicklung der allgemeinen Schulbildung zeigt dieselbe
Tendenz: sie will einerseits die schroffen Unterschiede der
geistigen Niveaus beseitigen und gerade durch die Herstellung
einer gewissen Gleichheit jedem Einzelnen die früher versagte
Möglichkeit zur Geltendmachung seiner individuellen Be-
fähigungen gewähren. Ich glaube sogar, daſs die Vorstellung
der allgemeinen Gleichheit psychologisch durch nichts mehr
gefördert werden kann, als durch ein scharfes Bewuſstsein
von dem Wesen und dem Werte der Individualität, von der
Thatsache, daſs jeder Mensch doch ein Individuum mit cha-
rakteristischen, in genau dieser Zusammensetzung nicht zum
zweiten Male auffindbaren Eigenschaften ist; gleichviel wie
diese Eigenschaften inhaltlich beschaffen seien: die Form der
Individualität kommt doch jedem Menschen zu und bestimmt
seinen Wert gemäſs dem Seltenheitsmoment. Hierdurch wird
eine formale Gleichheit geschaffen; gerade wenn jeder etwas
Besonderes ist, ist er insoweit jedem andern gleich. Und das
Dogma vom absoluten Ich, von der persönlichen unsterblichen
Seele, die jedem Menschen eigen sei, muſste mehr als alles
andere zu der Vorstellung der allgemeinen Gleichheit bei-
tragen, weil die empirischen Unterschiede, die man im Inhalte
der Seelen vorfindet, gegenüber ihren ewigen und absoluten
Qualitäten, in denen sie gleich sind, nicht in Betracht kommen.
Wenn man von dem socialistischen Charakter des Urchristen-
tums gesprochen hat, so geht dieser vielleicht weniger aus
positiven Gründen, als aus den negativen der vollständigen
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[56/0070] X 1. der Nationalität und der socialen Abgrenzung hinweg, ein Band der Gleichheit und Brüderlichkeit um alles, was Mensch heiſst. Und so hat denn der Individualismus der Stoiker ihren Kosmopolitismus zum Komplement; die Sprengung der engeren socialen Bande, in jener Epoche nicht weniger durch die politischen Verhältnisse wie durch theoretische Überlegung begünstigt, schob, unserm vorangestellten Prinzip zufolge, den Schwerpunkt des ethischen Interesses einerseits nach dem Individuum hin, andererseits nach jenem weitesten Kreise, dem jedes menschliche Individuum als solches angehört. Daſs die Lehre von der Gleichheit aller Menschen häufige Verbindungen mit einem extremen Individualismus eingeht, verstehen wir aus diesem und den folgenden Gründen. Es liegt psycholo- gisch nahe genug, daſs die furchtbare Ungleichheit, in welche der Einzelne in gewissen Epochen der Socialgeschichte hinein- geboren wurde, die Reaktion nach zwei Seiten hin entfesselte: sowohl nach der Seite des Rechts der Individualität, wie nach der der allgemeinen Gleichheit; denn beides pflegt im gleichen Grade den gröſseren Massen zu kurz zu kommen. Nur aus diesem zweiseitigen Zusammenhange heraus ist eine Erscheinung wie Rousseau zu verstehen; und die steigende Entwicklung der allgemeinen Schulbildung zeigt dieselbe Tendenz: sie will einerseits die schroffen Unterschiede der geistigen Niveaus beseitigen und gerade durch die Herstellung einer gewissen Gleichheit jedem Einzelnen die früher versagte Möglichkeit zur Geltendmachung seiner individuellen Be- fähigungen gewähren. Ich glaube sogar, daſs die Vorstellung der allgemeinen Gleichheit psychologisch durch nichts mehr gefördert werden kann, als durch ein scharfes Bewuſstsein von dem Wesen und dem Werte der Individualität, von der Thatsache, daſs jeder Mensch doch ein Individuum mit cha- rakteristischen, in genau dieser Zusammensetzung nicht zum zweiten Male auffindbaren Eigenschaften ist; gleichviel wie diese Eigenschaften inhaltlich beschaffen seien: die Form der Individualität kommt doch jedem Menschen zu und bestimmt seinen Wert gemäſs dem Seltenheitsmoment. Hierdurch wird eine formale Gleichheit geschaffen; gerade wenn jeder etwas Besonderes ist, ist er insoweit jedem andern gleich. Und das Dogma vom absoluten Ich, von der persönlichen unsterblichen Seele, die jedem Menschen eigen sei, muſste mehr als alles andere zu der Vorstellung der allgemeinen Gleichheit bei- tragen, weil die empirischen Unterschiede, die man im Inhalte der Seelen vorfindet, gegenüber ihren ewigen und absoluten Qualitäten, in denen sie gleich sind, nicht in Betracht kommen. Wenn man von dem socialistischen Charakter des Urchristen- tums gesprochen hat, so geht dieser vielleicht weniger aus positiven Gründen, als aus den negativen der vollständigen Gleichgiltigkeit hervor, die die ersten Christen alledem

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/70>, abgerufen am 25.11.2024.