Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.X 1. gegenüber empfanden, was sonst Unterschiede unter den Men-schen ausmacht -- und zwar gerade wegen des absoluten Wertes der Einzelseele. Hört die absolute Individualität auf, so werden die Einzelnen nur als Summe ihrer Eigenschaften gerechnet und sind natürlich so verschieden, wie diese es sind; sind diese Eigenschaften aber etwas Nebensächliches gegen- über der Hauptsache, nämlich der Persönlichkeit, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele, die etwa noch dazu wie bei Rousseau von vornherein sich einer vollkommenen, erst durch Erziehung und Gesellschaft verdorbenen Güte erfreut, so ist die Gleich- heit alles Menschenwesens die natürliche Folge. Übrigens führt, wie ersichtlich, dieser metaphysische Sinn der Persön- lichkeit zur Vernachlässigung ihres empirischen und eigentlich bedeutungsvollen Inhalts. Da nun aber die weitergehende Socialisierung in einer natürlichen und innerlich notwendigen Beziehung zu einer weitergehenden Individualisierung steht, so ist das eben charakterisierte Verhältnis, wo es praktisch wird, allemal verderblich. Revolutionäre Bewegungen, wie die der Wiedertäufer oder die von 1789, kommen zu ihren logischen und ethischen Unmöglichkeiten dadurch, dass sie zwar die niedere Allgemeinheit zu gunsten einer höheren auf- heben, aber ohne zugleich das Recht der Individualität zu wahren. Besonders die französische Revolution zeigt durch ihre Beziehung zu Rousseau, wie leicht die metaphysische Bedeutung der Persönlichkeit zur Vernachlässigung ihrer realen Bedeutung führt und wie durch diese nun auch die Socialisierung leidet, die von jener ausging. Wenden wir uns nun wieder zu dem Verhältnis des Individualismus zum Kos- mopolitismus zurück, so stellt sich in ethischer Beziehung der erstere oft als Egoismus dar, wie es da sehr nahe liegt, wo das Band der patriotischen Gesinnung zerfallen ist, das den Einzelnen zwar an einen kleineren Kreis fesselt, als der Kosmopolitismus es thut, aber dafür dem Egoismus ein kräf- tigeres Gegengewicht bietet. Schon die Cyniker zeigen die gleiche Korrelation zwischen Kosmopolitismus und Egoismus, indem sie das Zwischenglied des Patriotismus ausschalten, dessen es für die meisten Menschen bedarf, um den Egoismus im altruistischen Sinne zu beugen. Wenn andererseits die klassische Philosophie vielfach noch über Aristoteles hinaus es zu keiner scharfen begrifflichen Fassung der Persönlich- keit gebracht hat, wenn der Begriff der Vernunft für sie oft genug zwischen allgemeinster Weltvernunft und rein persön- licher Denkkraft schwankt, so ist dies doch die Folge der an den engeren staatlichen Kreis als an ein gewisses Mittleres zwischen Allgemeinstem und Persönlichstem gebundenen Denk- gewohnheit. Die Anwendbarheit dieser Formel von der Kor- relation zwischen Steigerung des Individuellen und Anwachsen der Socialgruppe auf ethische Verhältnisse lässt sich ferner in X 1. gegenüber empfanden, was sonst Unterschiede unter den Men-schen ausmacht — und zwar gerade wegen des absoluten Wertes der Einzelseele. Hört die absolute Individualität auf, so werden die Einzelnen nur als Summe ihrer Eigenschaften gerechnet und sind natürlich so verschieden, wie diese es sind; sind diese Eigenschaften aber etwas Nebensächliches gegen- über der Hauptsache, nämlich der Persönlichkeit, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele, die etwa noch dazu wie bei Rousseau von vornherein sich einer vollkommenen, erst durch Erziehung und Gesellschaft verdorbenen Güte erfreut, so ist die Gleich- heit alles Menschenwesens die natürliche Folge. Übrigens führt, wie ersichtlich, dieser metaphysische Sinn der Persön- lichkeit zur Vernachlässigung ihres empirischen und eigentlich bedeutungsvollen Inhalts. Da nun aber die weitergehende Socialisierung in einer natürlichen und innerlich notwendigen Beziehung zu einer weitergehenden Individualisierung steht, so ist das eben charakterisierte Verhältnis, wo es praktisch wird, allemal verderblich. Revolutionäre Bewegungen, wie die der Wiedertäufer oder die von 1789, kommen zu ihren logischen und ethischen Unmöglichkeiten dadurch, daſs sie zwar die niedere Allgemeinheit zu gunsten einer höheren auf- heben, aber ohne zugleich das Recht der Individualität zu wahren. Besonders die französische Revolution zeigt durch ihre Beziehung zu Rousseau, wie leicht die metaphysische Bedeutung der Persönlichkeit zur Vernachlässigung ihrer realen Bedeutung führt und wie durch diese nun auch die Socialisierung leidet, die von jener ausging. Wenden wir uns nun wieder zu dem Verhältnis des Individualismus zum Kos- mopolitismus zurück, so stellt sich in ethischer Beziehung der erstere oft als Egoismus dar, wie es da sehr nahe liegt, wo das Band der patriotischen Gesinnung zerfallen ist, das den Einzelnen zwar an einen kleineren Kreis fesselt, als der Kosmopolitismus es thut, aber dafür dem Egoismus ein kräf- tigeres Gegengewicht bietet. Schon die Cyniker zeigen die gleiche Korrelation zwischen Kosmopolitismus und Egoismus, indem sie das Zwischenglied des Patriotismus ausschalten, dessen es für die meisten Menschen bedarf, um den Egoismus im altruistischen Sinne zu beugen. Wenn andererseits die klassische Philosophie vielfach noch über Aristoteles hinaus es zu keiner scharfen begrifflichen Fassung der Persönlich- keit gebracht hat, wenn der Begriff der Vernunft für sie oft genug zwischen allgemeinster Weltvernunft und rein persön- licher Denkkraft schwankt, so ist dies doch die Folge der an den engeren staatlichen Kreis als an ein gewisses Mittleres zwischen Allgemeinstem und Persönlichstem gebundenen Denk- gewohnheit. 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X 1.
gegenüber empfanden, was sonst Unterschiede unter den Men-
schen ausmacht — und zwar gerade wegen des absoluten
Wertes der Einzelseele. Hört die absolute Individualität auf,
so werden die Einzelnen nur als Summe ihrer Eigenschaften
gerechnet und sind natürlich so verschieden, wie diese es sind;
sind diese Eigenschaften aber etwas Nebensächliches gegen-
über der Hauptsache, nämlich der Persönlichkeit, Freiheit und
Unsterblichkeit der Seele, die etwa noch dazu wie bei Rousseau
von vornherein sich einer vollkommenen, erst durch Erziehung
und Gesellschaft verdorbenen Güte erfreut, so ist die Gleich-
heit alles Menschenwesens die natürliche Folge. Übrigens
führt, wie ersichtlich, dieser metaphysische Sinn der Persön-
lichkeit zur Vernachlässigung ihres empirischen und eigentlich
bedeutungsvollen Inhalts. Da nun aber die weitergehende
Socialisierung in einer natürlichen und innerlich notwendigen
Beziehung zu einer weitergehenden Individualisierung steht,
so ist das eben charakterisierte Verhältnis, wo es praktisch
wird, allemal verderblich. Revolutionäre Bewegungen, wie
die der Wiedertäufer oder die von 1789, kommen zu ihren
logischen und ethischen Unmöglichkeiten dadurch, daſs sie
zwar die niedere Allgemeinheit zu gunsten einer höheren auf-
heben, aber ohne zugleich das Recht der Individualität zu
wahren. Besonders die französische Revolution zeigt durch
ihre Beziehung zu Rousseau, wie leicht die metaphysische
Bedeutung der Persönlichkeit zur Vernachlässigung ihrer
realen Bedeutung führt und wie durch diese nun auch die
Socialisierung leidet, die von jener ausging. Wenden wir uns
nun wieder zu dem Verhältnis des Individualismus zum Kos-
mopolitismus zurück, so stellt sich in ethischer Beziehung der
erstere oft als Egoismus dar, wie es da sehr nahe liegt, wo
das Band der patriotischen Gesinnung zerfallen ist, das den
Einzelnen zwar an einen kleineren Kreis fesselt, als der
Kosmopolitismus es thut, aber dafür dem Egoismus ein kräf-
tigeres Gegengewicht bietet. Schon die Cyniker zeigen die
gleiche Korrelation zwischen Kosmopolitismus und Egoismus,
indem sie das Zwischenglied des Patriotismus ausschalten,
dessen es für die meisten Menschen bedarf, um den Egoismus
im altruistischen Sinne zu beugen. Wenn andererseits die
klassische Philosophie vielfach noch über Aristoteles hinaus
es zu keiner scharfen begrifflichen Fassung der Persönlich-
keit gebracht hat, wenn der Begriff der Vernunft für sie oft
genug zwischen allgemeinster Weltvernunft und rein persön-
licher Denkkraft schwankt, so ist dies doch die Folge der an
den engeren staatlichen Kreis als an ein gewisses Mittleres
zwischen Allgemeinstem und Persönlichstem gebundenen Denk-
gewohnheit. Die Anwendbarheit dieser Formel von der Kor-
relation zwischen Steigerung des Individuellen und Anwachsen
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