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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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Wissenschaft sich schliesslich doch immer in irgendwelche
Opposition zu ihr gesetzt; es kam zu den entgegengesetztesten
Ansprüchen, die Wahrheit über ein bestimmtes Objekt aus-
zumachen, und zu den "zweierlei Wahrheiten", die immerhin
den Anfang einer Differenzierung vorstellten, aber in dem-
selben Masse umgekehrt zu um so schlimmeren Konflikten
führten, je einheitlicher im Ganzen noch Kirche und Wissen-
schaft aufgefasst wurden. Erst wenn beide sich vollkommen
sondern, können sie sich vollkommen vertragen. Erst die
differenzierende Übertragung der Erkenntnisfunktion an an-
dere Organe als die der religiösen Funktionen ermöglicht
ihr Nebeneinanderbestehen bei jenem Angewachsensein beider,
das in einer umfänglichen Gruppeneinheit besteht.

Auch eine auf den ersten Blick entgegengesetzte Er-
scheinung führt doch in gleicher Weise auf unseren Grund-
gedanken. Wo nämlich schon differenzierte und zur Dif-
ferenzierung angelegte Elemente in eine umfassende Einheit
zusammengezwungen werden, da ist gerade oft gesteigerte
Unverträglichkeit, stärkere gegenseitige Repulsion die Folge
davon; der grosse gemeinsame Rahmen, der doch einerseits
Differenzierung fordert, um als solcher bestehen zu können,
bewirkt andererseits eine gegenseitige Reibung der Elemente,
eine Geltendmachung der Gegensätze, die ohne dies Anein-
anderdrücken innerhalb der Einheit nicht entstanden wäre,
und die leicht zur Sprengung dieser letzteren führt. Allein
auch in diesem Fall ist die Vereinheitlichung in einem grossen
Gemeinsamen das wenngleich vorübergehende Mittel zur In-
dividualisierung und ihrem Bewusstwerden. So hat gerade
die weltherrschaftliche Politik des mittelalterlichen Kaisertums
den Partikularismus der Völker, Stämme und Fürsten erst
entfesselt, ja ins Leben gerufen; die beabsichtigte und teil-
weise durchgeführte Einheitlichkeit und Zusammenfassung in
einem grossen Ganzen hat dasjenige, was sie freilich dann zu
sprengen berufen war: die Individualität der Teile, erst er-
schaffen, gesteigert, bewusst gemacht.

Für dieses Reziprozitätsverhältnis von Individualisierung
und Verallgemeinerung finden wir Beispiele auf äusserlichen
Gebieten. Wenn statt der Geltung von Amts- und Standes-
tracht jeder sich kleidet, wie es ihm gefällt, so erscheint dies
einerseits individueller, andererseits aber menschlich allgemeiner,
insofern jene doch etwas Auszeichnendes hat, eine engere,
besonders charakterisierte Gruppe zusammenschliesst, deren
Auflösung gleichzeitig eine weite Socialisierung und Indivi-
dualisierung bedeutet. Noch entschiedener zeigt der folgende
Fall, dass nicht nur im realen Verhalten, sondern auch in der
psychologischen Vorstellungsart die Korrelation zwischen dem
Hervortreten der Individualität und der Erweiterung der
Gruppe statthat. Wir vernehmen von Reisenden und

Forschungen (42) X 1. -- Simmel. 5

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Wissenschaft sich schlieſslich doch immer in irgendwelche
Opposition zu ihr gesetzt; es kam zu den entgegengesetztesten
Ansprüchen, die Wahrheit über ein bestimmtes Objekt aus-
zumachen, und zu den „zweierlei Wahrheiten“, die immerhin
den Anfang einer Differenzierung vorstellten, aber in dem-
selben Maſse umgekehrt zu um so schlimmeren Konflikten
führten, je einheitlicher im Ganzen noch Kirche und Wissen-
schaft aufgefaſst wurden. Erst wenn beide sich vollkommen
sondern, können sie sich vollkommen vertragen. Erst die
differenzierende Übertragung der Erkenntnisfunktion an an-
dere Organe als die der religiösen Funktionen ermöglicht
ihr Nebeneinanderbestehen bei jenem Angewachsensein beider,
das in einer umfänglichen Gruppeneinheit besteht.

Auch eine auf den ersten Blick entgegengesetzte Er-
scheinung führt doch in gleicher Weise auf unseren Grund-
gedanken. Wo nämlich schon differenzierte und zur Dif-
ferenzierung angelegte Elemente in eine umfassende Einheit
zusammengezwungen werden, da ist gerade oft gesteigerte
Unverträglichkeit, stärkere gegenseitige Repulsion die Folge
davon; der groſse gemeinsame Rahmen, der doch einerseits
Differenzierung fordert, um als solcher bestehen zu können,
bewirkt andererseits eine gegenseitige Reibung der Elemente,
eine Geltendmachung der Gegensätze, die ohne dies Anein-
anderdrücken innerhalb der Einheit nicht entstanden wäre,
und die leicht zur Sprengung dieser letzteren führt. Allein
auch in diesem Fall ist die Vereinheitlichung in einem groſsen
Gemeinsamen das wenngleich vorübergehende Mittel zur In-
dividualisierung und ihrem Bewuſstwerden. So hat gerade
die weltherrschaftliche Politik des mittelalterlichen Kaisertums
den Partikularismus der Völker, Stämme und Fürsten erst
entfesselt, ja ins Leben gerufen; die beabsichtigte und teil-
weise durchgeführte Einheitlichkeit und Zusammenfassung in
einem groſsen Ganzen hat dasjenige, was sie freilich dann zu
sprengen berufen war: die Individualität der Teile, erst er-
schaffen, gesteigert, bewuſst gemacht.

Für dieses Reziprozitätsverhältnis von Individualisierung
und Verallgemeinerung finden wir Beispiele auf äuſserlichen
Gebieten. Wenn statt der Geltung von Amts- und Standes-
tracht jeder sich kleidet, wie es ihm gefällt, so erscheint dies
einerseits individueller, andererseits aber menschlich allgemeiner,
insofern jene doch etwas Auszeichnendes hat, eine engere,
besonders charakterisierte Gruppe zusammenschlieſst, deren
Auflösung gleichzeitig eine weite Socialisierung und Indivi-
dualisierung bedeutet. Noch entschiedener zeigt der folgende
Fall, daſs nicht nur im realen Verhalten, sondern auch in der
psychologischen Vorstellungsart die Korrelation zwischen dem
Hervortreten der Individualität und der Erweiterung der
Gruppe statthat. Wir vernehmen von Reisenden und

Forschungen (42) X 1. — Simmel. 5
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[65/0079] X 1. Wissenschaft sich schlieſslich doch immer in irgendwelche Opposition zu ihr gesetzt; es kam zu den entgegengesetztesten Ansprüchen, die Wahrheit über ein bestimmtes Objekt aus- zumachen, und zu den „zweierlei Wahrheiten“, die immerhin den Anfang einer Differenzierung vorstellten, aber in dem- selben Maſse umgekehrt zu um so schlimmeren Konflikten führten, je einheitlicher im Ganzen noch Kirche und Wissen- schaft aufgefaſst wurden. Erst wenn beide sich vollkommen sondern, können sie sich vollkommen vertragen. Erst die differenzierende Übertragung der Erkenntnisfunktion an an- dere Organe als die der religiösen Funktionen ermöglicht ihr Nebeneinanderbestehen bei jenem Angewachsensein beider, das in einer umfänglichen Gruppeneinheit besteht. Auch eine auf den ersten Blick entgegengesetzte Er- scheinung führt doch in gleicher Weise auf unseren Grund- gedanken. Wo nämlich schon differenzierte und zur Dif- ferenzierung angelegte Elemente in eine umfassende Einheit zusammengezwungen werden, da ist gerade oft gesteigerte Unverträglichkeit, stärkere gegenseitige Repulsion die Folge davon; der groſse gemeinsame Rahmen, der doch einerseits Differenzierung fordert, um als solcher bestehen zu können, bewirkt andererseits eine gegenseitige Reibung der Elemente, eine Geltendmachung der Gegensätze, die ohne dies Anein- anderdrücken innerhalb der Einheit nicht entstanden wäre, und die leicht zur Sprengung dieser letzteren führt. Allein auch in diesem Fall ist die Vereinheitlichung in einem groſsen Gemeinsamen das wenngleich vorübergehende Mittel zur In- dividualisierung und ihrem Bewuſstwerden. So hat gerade die weltherrschaftliche Politik des mittelalterlichen Kaisertums den Partikularismus der Völker, Stämme und Fürsten erst entfesselt, ja ins Leben gerufen; die beabsichtigte und teil- weise durchgeführte Einheitlichkeit und Zusammenfassung in einem groſsen Ganzen hat dasjenige, was sie freilich dann zu sprengen berufen war: die Individualität der Teile, erst er- schaffen, gesteigert, bewuſst gemacht. Für dieses Reziprozitätsverhältnis von Individualisierung und Verallgemeinerung finden wir Beispiele auf äuſserlichen Gebieten. Wenn statt der Geltung von Amts- und Standes- tracht jeder sich kleidet, wie es ihm gefällt, so erscheint dies einerseits individueller, andererseits aber menschlich allgemeiner, insofern jene doch etwas Auszeichnendes hat, eine engere, besonders charakterisierte Gruppe zusammenschlieſst, deren Auflösung gleichzeitig eine weite Socialisierung und Indivi- dualisierung bedeutet. Noch entschiedener zeigt der folgende Fall, daſs nicht nur im realen Verhalten, sondern auch in der psychologischen Vorstellungsart die Korrelation zwischen dem Hervortreten der Individualität und der Erweiterung der Gruppe statthat. Wir vernehmen von Reisenden und Forschungen (42) X 1. — Simmel. 5

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/79>, abgerufen am 25.11.2024.