Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.X 1. können es auch in gewissem Masse leicht selbst beobachten,dass bei der ersten Bekanntschaft mit einem fremden Volks- stamme alle Individuen desselben ununterscheidbar ähnlich erscheinen, und zwar in um so höherem Masse, je verschie- dener von uns dieser Stamm ist; bei Negern, Chinesen u. A. nimmt diese Differenz das Bewusstsein so sehr gefangen, dass die individuellen Verschiedenheiten unter jenen völlig davor verschwinden. Mehr und mehr aber treten sie hervor, je länger man diese, zunächst gleichförmig erscheinenden Men- schen kennt; und entsprechend verschwindet das stete Be- wusstsein des generellen und fundamentalen Unterschiedes zwischen uns und ihnen; sobald sie uns nicht mehr als ge- schlossene, in sich homogene Einheit entgegentreten, ge- wöhnen wir uns an sie; die Beobachtung zeigt, dass sie in demselben Masse als uns homogener erscheinen, in dem sie als unter sich heterogener erkannt werden: die allgemeine Gleichheit, die sie mit uns verbindet, wächst in dem Verhält- nis, in dem die Individualität unter ihnen erkannt wird. Auch unsere Begriffsbildung nimmt den Weg, dass zu- X 1. können es auch in gewissem Maſse leicht selbst beobachten,daſs bei der ersten Bekanntschaft mit einem fremden Volks- stamme alle Individuen desselben ununterscheidbar ähnlich erscheinen, und zwar in um so höherem Maſse, je verschie- dener von uns dieser Stamm ist; bei Negern, Chinesen u. A. nimmt diese Differenz das Bewuſstsein so sehr gefangen, daſs die individuellen Verschiedenheiten unter jenen völlig davor verschwinden. Mehr und mehr aber treten sie hervor, je länger man diese, zunächst gleichförmig erscheinenden Men- schen kennt; und entsprechend verschwindet das stete Be- wuſstsein des generellen und fundamentalen Unterschiedes zwischen uns und ihnen; sobald sie uns nicht mehr als ge- schlossene, in sich homogene Einheit entgegentreten, ge- wöhnen wir uns an sie; die Beobachtung zeigt, daſs sie in demselben Maſse als uns homogener erscheinen, in dem sie als unter sich heterogener erkannt werden: die allgemeine Gleichheit, die sie mit uns verbindet, wächst in dem Verhält- nis, in dem die Individualität unter ihnen erkannt wird. 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X 1.
können es auch in gewissem Maſse leicht selbst beobachten,
daſs bei der ersten Bekanntschaft mit einem fremden Volks-
stamme alle Individuen desselben ununterscheidbar ähnlich
erscheinen, und zwar in um so höherem Maſse, je verschie-
dener von uns dieser Stamm ist; bei Negern, Chinesen u. A.
nimmt diese Differenz das Bewuſstsein so sehr gefangen, daſs
die individuellen Verschiedenheiten unter jenen völlig davor
verschwinden. Mehr und mehr aber treten sie hervor, je
länger man diese, zunächst gleichförmig erscheinenden Men-
schen kennt; und entsprechend verschwindet das stete Be-
wuſstsein des generellen und fundamentalen Unterschiedes
zwischen uns und ihnen; sobald sie uns nicht mehr als ge-
schlossene, in sich homogene Einheit entgegentreten, ge-
wöhnen wir uns an sie; die Beobachtung zeigt, daſs sie in
demselben Maſse als uns homogener erscheinen, in dem sie
als unter sich heterogener erkannt werden: die allgemeine
Gleichheit, die sie mit uns verbindet, wächst in dem Verhält-
nis, in dem die Individualität unter ihnen erkannt wird.
Auch unsere Begriffsbildung nimmt den Weg, daſs zu-
nächst eine gewisse Anzahl von Objekten nach sehr hervor-
stechenden Merkmalen in eine Kategorie einheitlich zu-
sammengefaſst und einem andern ebenso entstandenen Begriff
schroff entgegengestellt wird. In demselben Maſse nun, in
dem man neben jenen, zunächst auffallenden und bestimmen-
den Qualitäten andere entdeckt, welche die unter dem zuerst
konzipierten Begriff enthaltenen Objekte individualisieren, —
in demselben müssen die scharfen begrifflichen Grenzen
fallen. Die Geschichte des menschlichen Geistes ist voll von
Beispielen für diesen Prozeſs, von denen eines der hervor-
ragendsten die Umwandlung der alten Artlehre in die De-
scendenztheorie ist. Die frühere Anschauung glaubte zwischen
den organischen Arten so scharfe Grenzen, eine so geringe
Wesengleichheit zu erblicken, daſs sie an keine gemeinsame
Abstammung, sondern nur an gesonderte Schöpfungsakte
glauben konnte; das Doppelbedürfnis unseres Geistes, einer-
seits nach Zusammenfassung, andererseits nach Unterscheidung,
befriedigte sie so, daſs sie in einen einheitlichen Begriff eine
groſse Summe von gleichen Einzelnen einschloſs, diesen Be-
griff aber um so schärfer von allen andern abschloſs und,
wie es entsprechend der Ausgangspunkt der oben entwickelten
Formel ist, die geringe Beachtung der Individualität innerhalb
der Gruppe durch um so schärfere Individualisierung dieser
den andern gegenüber und durch Ausschluſs einer allgemeinen
Gleichheit groſser Klassen oder der gesamten organischen
Welt ausglich. Dieses Verhalten verschiebt die neuere Er-
kenntnis nach beiden Seiten hin; sie befriedigt den Trieb
nach Zusammenfassung durch den Gedanken einer allgemeinen
Einheit alles Lebenden, welche die Fülle der Erscheinungen
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