bolische Dienste und Formeln erfüllt werden oder durch ein unmittel- bares Sich-Hinwenden des Individuums zu seinem Gott; ob die Achtung der Menschen für einander sich in einem festgesetzten, die gegenseitigen Positionen durch bestimmte Zeremonien andeutenden Schematismus offen- bart oder in der formfreien Höflichkeit, Ergebenheit und Respekt; ob Käufe, Zusagen, Verträge durch einfache Verlautbarung ihres Inhaltes vollzogen werden, oder ob sie durch ein äusseres Symbol feierlicher Handlungen erst legalisiert und zuverlässig gemacht werden; ob das theoretische Erkennen sich unmittelbar an die sinnliche Wirklichkeit wendet, oder sich mit der Vertretung derselben durch allgemeine Be- griffe und metaphysische oder mythologische Sinnbilder zu thun macht -- das gehört zu den tiefgreifendsten Unterschieden der Lebensrichtungen. Diese Unterschiede aber sind natürlich nicht starr; die innere Geschichte der Menschheit zeigt vielmehr ein fortwährendes Auf- und Absteigen zwischen ihnen; auf der einen Seite wächst die Symbolisierung der Realitäten, zugleich aber werden, als Gegenbewegung, stetig Symbole aufgelöst und auf ihr ursprüngliches Substrat reduziert. Ich führe ein ganz singuläres Beispiel an. Die sexuellen Dinge standen schon lange unter der Verhüllung durch Zucht und Scham, während die Worte, die sie bezeichneten, noch völlig ungeniert gebraucht wurden; erst in den letzten Jahrhunderten ist das Wort unter dieselben Kautelen ge- stellt -- das Symbol rückte in die Gefühlsbedeutung der Realität ein. Nun aber bahnt sich in der allerneuesten Zeit wieder eine Lösung dieser Verbindung an. Die naturalistische Kunstrichtung hat auf die Undifferenziertheit und Unfreiheit des Empfindens hingewiesen, das an das Wort, also an ein blosses, zu künstlerischen Zwecken verwandtes Symbol, dieselben Empfindungen knüpfe, wie an die Sache selbst; die Darstellung des Unanständigen sei noch keine unanständige Darstellung, und man müsse die Realitätsempfindungen von der symbolischen Welt lösen, in der jede Kunst, auch die naturalistische, sich bewege. Viel- leicht in Zusammenhang hiermit kommt eine allgemeine grössere Frei- heit der gebildeten Stände im Besprechen heikler Objekte auf; wo objektive und reine Gesinnung vorausgesetzt wird, ist mancherlei früher Verbotenes auszusprechen erlaubt -- die Schamempfindung ist eben wieder ausschliesslicher der Sache zugewandt und lässt das Wort, als ein blosses Symbol ihrer, wieder freier. So schwankt, auf den engsten wie auf den weitesten Gebieten, das Verhältnis zwischen Realität und Symbol, und man möchte fast glauben -- so wenig solche Allgemein- heiten ihre Beweislast auf sich nehmen können -- dass entweder jede Kulturstufe (und schliesslich jede Nation, jeder Kreis, jedes Individuum) eine besondere Proportion zwischen symbolischer und unmittelbar rea-
bolische Dienste und Formeln erfüllt werden oder durch ein unmittel- bares Sich-Hinwenden des Individuums zu seinem Gott; ob die Achtung der Menschen für einander sich in einem festgesetzten, die gegenseitigen Positionen durch bestimmte Zeremonien andeutenden Schematismus offen- bart oder in der formfreien Höflichkeit, Ergebenheit und Respekt; ob Käufe, Zusagen, Verträge durch einfache Verlautbarung ihres Inhaltes vollzogen werden, oder ob sie durch ein äuſseres Symbol feierlicher Handlungen erst legalisiert und zuverlässig gemacht werden; ob das theoretische Erkennen sich unmittelbar an die sinnliche Wirklichkeit wendet, oder sich mit der Vertretung derselben durch allgemeine Be- griffe und metaphysische oder mythologische Sinnbilder zu thun macht — das gehört zu den tiefgreifendsten Unterschieden der Lebensrichtungen. Diese Unterschiede aber sind natürlich nicht starr; die innere Geschichte der Menschheit zeigt vielmehr ein fortwährendes Auf- und Absteigen zwischen ihnen; auf der einen Seite wächst die Symbolisierung der Realitäten, zugleich aber werden, als Gegenbewegung, stetig Symbole aufgelöst und auf ihr ursprüngliches Substrat reduziert. Ich führe ein ganz singuläres Beispiel an. Die sexuellen Dinge standen schon lange unter der Verhüllung durch Zucht und Scham, während die Worte, die sie bezeichneten, noch völlig ungeniert gebraucht wurden; erst in den letzten Jahrhunderten ist das Wort unter dieselben Kautelen ge- stellt — das Symbol rückte in die Gefühlsbedeutung der Realität ein. Nun aber bahnt sich in der allerneuesten Zeit wieder eine Lösung dieser Verbindung an. Die naturalistische Kunstrichtung hat auf die Undifferenziertheit und Unfreiheit des Empfindens hingewiesen, das an das Wort, also an ein bloſses, zu künstlerischen Zwecken verwandtes Symbol, dieselben Empfindungen knüpfe, wie an die Sache selbst; die Darstellung des Unanständigen sei noch keine unanständige Darstellung, und man müsse die Realitätsempfindungen von der symbolischen Welt lösen, in der jede Kunst, auch die naturalistische, sich bewege. Viel- leicht in Zusammenhang hiermit kommt eine allgemeine gröſsere Frei- heit der gebildeten Stände im Besprechen heikler Objekte auf; wo objektive und reine Gesinnung vorausgesetzt wird, ist mancherlei früher Verbotenes auszusprechen erlaubt — die Schamempfindung ist eben wieder ausschlieſslicher der Sache zugewandt und läſst das Wort, als ein bloſses Symbol ihrer, wieder freier. So schwankt, auf den engsten wie auf den weitesten Gebieten, das Verhältnis zwischen Realität und Symbol, und man möchte fast glauben — so wenig solche Allgemein- heiten ihre Beweislast auf sich nehmen können — daſs entweder jede Kulturstufe (und schlieſslich jede Nation, jeder Kreis, jedes Individuum) eine besondere Proportion zwischen symbolischer und unmittelbar rea-
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bolische Dienste und Formeln erfüllt werden oder durch ein unmittel-
bares Sich-Hinwenden des Individuums zu seinem Gott; ob die Achtung
der Menschen für einander sich in einem festgesetzten, die gegenseitigen
Positionen durch bestimmte Zeremonien andeutenden Schematismus offen-
bart oder in der formfreien Höflichkeit, Ergebenheit und Respekt; ob
Käufe, Zusagen, Verträge durch einfache Verlautbarung ihres Inhaltes
vollzogen werden, oder ob sie durch ein äuſseres Symbol feierlicher
Handlungen erst legalisiert und zuverlässig gemacht werden; ob das
theoretische Erkennen sich unmittelbar an die sinnliche Wirklichkeit
wendet, oder sich mit der Vertretung derselben durch allgemeine Be-
griffe und metaphysische oder mythologische Sinnbilder zu thun macht —
das gehört zu den tiefgreifendsten Unterschieden der Lebensrichtungen.
Diese Unterschiede aber sind natürlich nicht starr; die innere Geschichte
der Menschheit zeigt vielmehr ein fortwährendes Auf- und Absteigen
zwischen ihnen; auf der einen Seite wächst die Symbolisierung der
Realitäten, zugleich aber werden, als Gegenbewegung, stetig Symbole
aufgelöst und auf ihr ursprüngliches Substrat reduziert. Ich führe ein
ganz singuläres Beispiel an. Die sexuellen Dinge standen schon lange
unter der Verhüllung durch Zucht und Scham, während die Worte,
die sie bezeichneten, noch völlig ungeniert gebraucht wurden; erst in
den letzten Jahrhunderten ist das Wort unter dieselben Kautelen ge-
stellt — das Symbol rückte in die Gefühlsbedeutung der Realität ein.
Nun aber bahnt sich in der allerneuesten Zeit wieder eine Lösung
dieser Verbindung an. Die naturalistische Kunstrichtung hat auf die
Undifferenziertheit und Unfreiheit des Empfindens hingewiesen, das an
das Wort, also an ein bloſses, zu künstlerischen Zwecken verwandtes
Symbol, dieselben Empfindungen knüpfe, wie an die Sache selbst; die
Darstellung des Unanständigen sei noch keine unanständige Darstellung,
und man müsse die Realitätsempfindungen von der symbolischen Welt
lösen, in der jede Kunst, auch die naturalistische, sich bewege. Viel-
leicht in Zusammenhang hiermit kommt eine allgemeine gröſsere Frei-
heit der gebildeten Stände im Besprechen heikler Objekte auf; wo
objektive und reine Gesinnung vorausgesetzt wird, ist mancherlei früher
Verbotenes auszusprechen erlaubt — die Schamempfindung ist eben
wieder ausschlieſslicher der Sache zugewandt und läſst das Wort, als
ein bloſses Symbol ihrer, wieder freier. So schwankt, auf den engsten
wie auf den weitesten Gebieten, das Verhältnis zwischen Realität und
Symbol, und man möchte fast glauben — so wenig solche Allgemein-
heiten ihre Beweislast auf sich nehmen können — daſs entweder jede
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/134>, abgerufen am 27.11.2024.
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