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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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sie in ihrer Wirkung ganz oder teilweise aufgehoben wird und so-
zusagen das empfindende Organ erst nach Überwindung eines positiven
Widerstandes in der ihr eigenen Richtung zu bewegen vermag. Das
durch diese Vorstellung bezeichnete Verhalten begegnet nun der weiteren
Thatsache, die wir als Unterschiedsempfindlichkeit bezeichnen: wir be-
sitzen in der Empfindung kein Mass für absolute, sondern nur für
relative Grössen, d. h. nur durch den Unterschied einer Empfindung
von der andern können wir jeder ein Mass bestimmen. Diese Er-
fahrung -- deren Modifikationen hier ausser acht bleiben können und
die für uns nur soweit, wie auch ihre Kritiker sie zugeben, zu gelten
braucht -- ist ersichtlich das Fundament der ganzen oben besprochenen
Erscheinungsreihe. Denn wenn -- so hat man dies an einem ein-
fachsten Beispiel ausgedrückt -- eine Bewegung im Tastnerven von der
Stärke 1 um 1/3 zugenommen hat, so ist dies das nämliche, als wenn
eine Bewegung von der Stärke 2 um 2/3 zugenommen hätte. Die That-
sache also, dass wir die gleiche Reaktion an den relativ gleichen
Unterschied von dem gegebnen Empfindungszustand knüpfen, bewirkt es,
dass die objektiv gleichen Reize sehr verschiedene subjektive Folgen
haben. Je weiter die Empfindung, die ein neuer Reiz fordert, von der
vorgefundenen Verfassung des Empfindens abweicht, als desto stärker
und merklicher wird sie zum Bewusstsein kommen. Dies kreuzt sich
nun, wie erwähnt, mit der Thatsache, dass der Reiz oft erst eine,
seiner Richtung entgegenstehende Stimmung unserer physisch-psychischen
Organe zu überwinden hat, ehe er sich für unser Bewusstsein geltend
machen kann. Denn während gemäss jener Unterschiedsempfindlichkeit
der Reiz um so merklicher ist, je weiter er von dem vorhergehenden
Zustand absteht, so ist er nach dem andern Prinzip -- bis zu einer
gewissen Grenze -- um so unmerklicher, je differenter seine Richtung
von der der bestehenden inneren Bewegungen ist. Das hängt mit der
Beobachtung zusammen, dass Empfindungen bei gleichbleibendem Reize
eine gewisse, wenn auch sehr kurze Zeit brauchen, ehe sie auf ihre
Höhe gelangen. Während die erstere Erscheinungsreihe auf die That-
sache der Ermüdung zurückgeht -- der Nerv antwortet auf den zweiten
gleichartigen Reiz eben nicht mehr mit gleicher Energie, weil er durch
den ersten ermüdet ist -- zeigt die letztere, dass sich die Ermüdung
keineswegs unmittelbar an die Reizreaktion anschliesst, sondern dass
zunächst diese Reaktion sich bei unverändertem Reize wie aus sich
selber akkumuliert -- vielleicht aus dem angeführten Grunde, dass erst
ein Widerstand der perzipierenden Organe überwunden werden muss,
ehe der Reiz die Höhe erreicht, von der er freilich durch die nun
eintretende Ermüdung wieder herabsinkt. Dieser Dualismus der Wir-

sie in ihrer Wirkung ganz oder teilweise aufgehoben wird und so-
zusagen das empfindende Organ erst nach Überwindung eines positiven
Widerstandes in der ihr eigenen Richtung zu bewegen vermag. Das
durch diese Vorstellung bezeichnete Verhalten begegnet nun der weiteren
Thatsache, die wir als Unterschiedsempfindlichkeit bezeichnen: wir be-
sitzen in der Empfindung kein Maſs für absolute, sondern nur für
relative Gröſsen, d. h. nur durch den Unterschied einer Empfindung
von der andern können wir jeder ein Maſs bestimmen. Diese Er-
fahrung — deren Modifikationen hier auſser acht bleiben können und
die für uns nur soweit, wie auch ihre Kritiker sie zugeben, zu gelten
braucht — ist ersichtlich das Fundament der ganzen oben besprochenen
Erscheinungsreihe. Denn wenn — so hat man dies an einem ein-
fachsten Beispiel ausgedrückt — eine Bewegung im Tastnerven von der
Stärke 1 um ⅓ zugenommen hat, so ist dies das nämliche, als wenn
eine Bewegung von der Stärke 2 um ⅔ zugenommen hätte. Die That-
sache also, daſs wir die gleiche Reaktion an den relativ gleichen
Unterschied von dem gegebnen Empfindungszustand knüpfen, bewirkt es,
daſs die objektiv gleichen Reize sehr verschiedene subjektive Folgen
haben. Je weiter die Empfindung, die ein neuer Reiz fordert, von der
vorgefundenen Verfassung des Empfindens abweicht, als desto stärker
und merklicher wird sie zum Bewuſstsein kommen. Dies kreuzt sich
nun, wie erwähnt, mit der Thatsache, daſs der Reiz oft erst eine,
seiner Richtung entgegenstehende Stimmung unserer physisch-psychischen
Organe zu überwinden hat, ehe er sich für unser Bewuſstsein geltend
machen kann. Denn während gemäſs jener Unterschiedsempfindlichkeit
der Reiz um so merklicher ist, je weiter er von dem vorhergehenden
Zustand absteht, so ist er nach dem andern Prinzip — bis zu einer
gewissen Grenze — um so unmerklicher, je differenter seine Richtung
von der der bestehenden inneren Bewegungen ist. Das hängt mit der
Beobachtung zusammen, daſs Empfindungen bei gleichbleibendem Reize
eine gewisse, wenn auch sehr kurze Zeit brauchen, ehe sie auf ihre
Höhe gelangen. Während die erstere Erscheinungsreihe auf die That-
sache der Ermüdung zurückgeht — der Nerv antwortet auf den zweiten
gleichartigen Reiz eben nicht mehr mit gleicher Energie, weil er durch
den ersten ermüdet ist — zeigt die letztere, daſs sich die Ermüdung
keineswegs unmittelbar an die Reizreaktion anschlieſst, sondern daſs
zunächst diese Reaktion sich bei unverändertem Reize wie aus sich
selber akkumuliert — vielleicht aus dem angeführten Grunde, daſs erst
ein Widerstand der perzipierenden Organe überwunden werden muſs,
ehe der Reiz die Höhe erreicht, von der er freilich durch die nun
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[258/0282] sie in ihrer Wirkung ganz oder teilweise aufgehoben wird und so- zusagen das empfindende Organ erst nach Überwindung eines positiven Widerstandes in der ihr eigenen Richtung zu bewegen vermag. Das durch diese Vorstellung bezeichnete Verhalten begegnet nun der weiteren Thatsache, die wir als Unterschiedsempfindlichkeit bezeichnen: wir be- sitzen in der Empfindung kein Maſs für absolute, sondern nur für relative Gröſsen, d. h. nur durch den Unterschied einer Empfindung von der andern können wir jeder ein Maſs bestimmen. Diese Er- fahrung — deren Modifikationen hier auſser acht bleiben können und die für uns nur soweit, wie auch ihre Kritiker sie zugeben, zu gelten braucht — ist ersichtlich das Fundament der ganzen oben besprochenen Erscheinungsreihe. Denn wenn — so hat man dies an einem ein- fachsten Beispiel ausgedrückt — eine Bewegung im Tastnerven von der Stärke 1 um ⅓ zugenommen hat, so ist dies das nämliche, als wenn eine Bewegung von der Stärke 2 um ⅔ zugenommen hätte. Die That- sache also, daſs wir die gleiche Reaktion an den relativ gleichen Unterschied von dem gegebnen Empfindungszustand knüpfen, bewirkt es, daſs die objektiv gleichen Reize sehr verschiedene subjektive Folgen haben. Je weiter die Empfindung, die ein neuer Reiz fordert, von der vorgefundenen Verfassung des Empfindens abweicht, als desto stärker und merklicher wird sie zum Bewuſstsein kommen. Dies kreuzt sich nun, wie erwähnt, mit der Thatsache, daſs der Reiz oft erst eine, seiner Richtung entgegenstehende Stimmung unserer physisch-psychischen Organe zu überwinden hat, ehe er sich für unser Bewuſstsein geltend machen kann. Denn während gemäſs jener Unterschiedsempfindlichkeit der Reiz um so merklicher ist, je weiter er von dem vorhergehenden Zustand absteht, so ist er nach dem andern Prinzip — bis zu einer gewissen Grenze — um so unmerklicher, je differenter seine Richtung von der der bestehenden inneren Bewegungen ist. Das hängt mit der Beobachtung zusammen, daſs Empfindungen bei gleichbleibendem Reize eine gewisse, wenn auch sehr kurze Zeit brauchen, ehe sie auf ihre Höhe gelangen. Während die erstere Erscheinungsreihe auf die That- sache der Ermüdung zurückgeht — der Nerv antwortet auf den zweiten gleichartigen Reiz eben nicht mehr mit gleicher Energie, weil er durch den ersten ermüdet ist — zeigt die letztere, daſs sich die Ermüdung keineswegs unmittelbar an die Reizreaktion anschlieſst, sondern daſs zunächst diese Reaktion sich bei unverändertem Reize wie aus sich selber akkumuliert — vielleicht aus dem angeführten Grunde, daſs erst ein Widerstand der perzipierenden Organe überwunden werden muſs, ehe der Reiz die Höhe erreicht, von der er freilich durch die nun eintretende Ermüdung wieder herabsinkt. Dieser Dualismus der Wir-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/282>, abgerufen am 24.11.2024.