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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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erste Stadium dieses Verzichts vielleicht die grösste Leidenschaft des
Verlangens zeigen, dann aber wird eine Anpassung an ihn, eine Nieder-
kämpfung der unnützen Sehnsucht eintreten, ja, nach dem Typus der
"sauren Trauben" eine direkte Aversion gegen das doch nicht Erreich-
bare. Auf sehr vielen Gebieten knüpft sich ein solcher Wechsel des
positiven und negativen Verhaltens an die quantitative Änderung der
ökonomischen Forderung. Der Steuerdruck, der auf dem russischen
Bauern lastet, wird als Ursache seiner schlechten, primitiven und wenig
intensiven Wirtschaft angegeben: der Fleiss lohne sich für ihn nicht,
da er doch nichts übrig behalte als das nackte Leben. Offenbar würde
ein etwas geringerer Druck, der ihm bei sehr fleissiger Arbeit einen
Gewinn liesse, ihn grade zu möglichst intensiver Bewirtschaftung ver-
anlassen; sänken aber die Abgaben noch mehr, so würde er vielleicht
wieder zu seiner früheren Trägheit zurückkehren, wenn er nun schon
mit dieser einen Ertrag hätte, der allen Bedürfnissen seines Kultur-
niveaus genügte. Oder ein anderes Beispiel: wenn eine Klasse oder ein
Individuum zu niedriger Lebenshaltung gezwungen ist und deshalb nur
rohe und gemeine Freuden und Erholungen kennt, so führt ein etwas
erhöhtes Einkommen nur dazu, diese Genüsse häufiger und ausgedehnter
zu suchen; wird es nun aber sehr erheblich höher, so steigen die An-
sprüche an den Genuss in eine generell andere Sphäre. Wo z. B. die
Schnapsflasche die Hauptfreude bildet, werden erhöhte Löhne zu ge-
steigertem Schnapsgebrauch führen; werden sie aber noch weiter und
bedeutend erhöht, so wird sich das Bedürfnis nach ganz anderen Kate-
gorien von Genüssen einstellen. Endlich kommt es hier zu einer aller
Analyse spottenden Komplikation durch den Umstand, dass die Be-
wusstseinsschwellen für die verschiedenen Lust- und Schmerzgefühle
offenbar ganz verschieden hoch liegen. Auf physiologischem Gebiet
zunächst haben neuere Untersuchungen den immensen Unterschied der
Schmerzempfindlichkeit ergeben, der zwischen den Nerven verschiedener
Körperteile besteht und für einige das Sechshundertfache des Schwellen-
wertes anderer aufweist, und zwar charakteristischerweise so, dass der
Schwellenwert für die Druckempfindlichkeit eben derselben Stellen
gar kein konstantes Verhältnis zu jenem besitzt. Nun ist es allerdings
äusserst misslich, die Schwellenwerte für verschiedenartige höhere und
nicht-sinnliche Gefühle zu vergleichen, weil ihre veranlassenden Mo-
mente ganz heterogen und nicht so nach ihren Quanten zu vergleichen
sind wie mechanische oder elektrische Reize der Sinnesnerven. Trotz-
dem hiermit jede Messung ausgeschlossen erscheint, wird man die un-
gleichmässige Reizbarkeit auch der höheren Gefühlsprovinzen zugeben
und damit -- da die bisher fraglichen Lebenssituationen immer eine

erste Stadium dieses Verzichts vielleicht die gröſste Leidenschaft des
Verlangens zeigen, dann aber wird eine Anpassung an ihn, eine Nieder-
kämpfung der unnützen Sehnsucht eintreten, ja, nach dem Typus der
„sauren Trauben“ eine direkte Aversion gegen das doch nicht Erreich-
bare. Auf sehr vielen Gebieten knüpft sich ein solcher Wechsel des
positiven und negativen Verhaltens an die quantitative Änderung der
ökonomischen Forderung. Der Steuerdruck, der auf dem russischen
Bauern lastet, wird als Ursache seiner schlechten, primitiven und wenig
intensiven Wirtschaft angegeben: der Fleiſs lohne sich für ihn nicht,
da er doch nichts übrig behalte als das nackte Leben. Offenbar würde
ein etwas geringerer Druck, der ihm bei sehr fleiſsiger Arbeit einen
Gewinn lieſse, ihn grade zu möglichst intensiver Bewirtschaftung ver-
anlassen; sänken aber die Abgaben noch mehr, so würde er vielleicht
wieder zu seiner früheren Trägheit zurückkehren, wenn er nun schon
mit dieser einen Ertrag hätte, der allen Bedürfnissen seines Kultur-
niveaus genügte. Oder ein anderes Beispiel: wenn eine Klasse oder ein
Individuum zu niedriger Lebenshaltung gezwungen ist und deshalb nur
rohe und gemeine Freuden und Erholungen kennt, so führt ein etwas
erhöhtes Einkommen nur dazu, diese Genüsse häufiger und ausgedehnter
zu suchen; wird es nun aber sehr erheblich höher, so steigen die An-
sprüche an den Genuſs in eine generell andere Sphäre. Wo z. B. die
Schnapsflasche die Hauptfreude bildet, werden erhöhte Löhne zu ge-
steigertem Schnapsgebrauch führen; werden sie aber noch weiter und
bedeutend erhöht, so wird sich das Bedürfnis nach ganz anderen Kate-
gorien von Genüssen einstellen. Endlich kommt es hier zu einer aller
Analyse spottenden Komplikation durch den Umstand, daſs die Be-
wuſstseinsschwellen für die verschiedenen Lust- und Schmerzgefühle
offenbar ganz verschieden hoch liegen. Auf physiologischem Gebiet
zunächst haben neuere Untersuchungen den immensen Unterschied der
Schmerzempfindlichkeit ergeben, der zwischen den Nerven verschiedener
Körperteile besteht und für einige das Sechshundertfache des Schwellen-
wertes anderer aufweist, und zwar charakteristischerweise so, daſs der
Schwellenwert für die Druckempfindlichkeit eben derselben Stellen
gar kein konstantes Verhältnis zu jenem besitzt. Nun ist es allerdings
äuſserst miſslich, die Schwellenwerte für verschiedenartige höhere und
nicht-sinnliche Gefühle zu vergleichen, weil ihre veranlassenden Mo-
mente ganz heterogen und nicht so nach ihren Quanten zu vergleichen
sind wie mechanische oder elektrische Reize der Sinnesnerven. Trotz-
dem hiermit jede Messung ausgeschlossen erscheint, wird man die un-
gleichmäſsige Reizbarkeit auch der höheren Gefühlsprovinzen zugeben
und damit — da die bisher fraglichen Lebenssituationen immer eine

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[260/0284] erste Stadium dieses Verzichts vielleicht die gröſste Leidenschaft des Verlangens zeigen, dann aber wird eine Anpassung an ihn, eine Nieder- kämpfung der unnützen Sehnsucht eintreten, ja, nach dem Typus der „sauren Trauben“ eine direkte Aversion gegen das doch nicht Erreich- bare. Auf sehr vielen Gebieten knüpft sich ein solcher Wechsel des positiven und negativen Verhaltens an die quantitative Änderung der ökonomischen Forderung. Der Steuerdruck, der auf dem russischen Bauern lastet, wird als Ursache seiner schlechten, primitiven und wenig intensiven Wirtschaft angegeben: der Fleiſs lohne sich für ihn nicht, da er doch nichts übrig behalte als das nackte Leben. Offenbar würde ein etwas geringerer Druck, der ihm bei sehr fleiſsiger Arbeit einen Gewinn lieſse, ihn grade zu möglichst intensiver Bewirtschaftung ver- anlassen; sänken aber die Abgaben noch mehr, so würde er vielleicht wieder zu seiner früheren Trägheit zurückkehren, wenn er nun schon mit dieser einen Ertrag hätte, der allen Bedürfnissen seines Kultur- niveaus genügte. Oder ein anderes Beispiel: wenn eine Klasse oder ein Individuum zu niedriger Lebenshaltung gezwungen ist und deshalb nur rohe und gemeine Freuden und Erholungen kennt, so führt ein etwas erhöhtes Einkommen nur dazu, diese Genüsse häufiger und ausgedehnter zu suchen; wird es nun aber sehr erheblich höher, so steigen die An- sprüche an den Genuſs in eine generell andere Sphäre. Wo z. B. die Schnapsflasche die Hauptfreude bildet, werden erhöhte Löhne zu ge- steigertem Schnapsgebrauch führen; werden sie aber noch weiter und bedeutend erhöht, so wird sich das Bedürfnis nach ganz anderen Kate- gorien von Genüssen einstellen. Endlich kommt es hier zu einer aller Analyse spottenden Komplikation durch den Umstand, daſs die Be- wuſstseinsschwellen für die verschiedenen Lust- und Schmerzgefühle offenbar ganz verschieden hoch liegen. Auf physiologischem Gebiet zunächst haben neuere Untersuchungen den immensen Unterschied der Schmerzempfindlichkeit ergeben, der zwischen den Nerven verschiedener Körperteile besteht und für einige das Sechshundertfache des Schwellen- wertes anderer aufweist, und zwar charakteristischerweise so, daſs der Schwellenwert für die Druckempfindlichkeit eben derselben Stellen gar kein konstantes Verhältnis zu jenem besitzt. Nun ist es allerdings äuſserst miſslich, die Schwellenwerte für verschiedenartige höhere und nicht-sinnliche Gefühle zu vergleichen, weil ihre veranlassenden Mo- mente ganz heterogen und nicht so nach ihren Quanten zu vergleichen sind wie mechanische oder elektrische Reize der Sinnesnerven. Trotz- dem hiermit jede Messung ausgeschlossen erscheint, wird man die un- gleichmäſsige Reizbarkeit auch der höheren Gefühlsprovinzen zugeben und damit — da die bisher fraglichen Lebenssituationen immer eine

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/284>, abgerufen am 24.11.2024.