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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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eines isolierten Subjekts, sondern eine Korrelationserscheinung, die
ihren Sinn verliert, wenn kein Gegenpart da ist. Wenn jedes Ver-
hältnis zwischen Menschen aus Elementen der Annäherung und Ele-
menten der Distanz besteht, so ist Unabhängigkeit eines, in dem die
letzteren zwar ein Maximum geworden, die ersteren aber so wenig ganz
verschwunden sein können, wie aus der Vorstellung des Linken die
des Rechten. Die Frage ist jetzt nur, welches die günstigste konkrete
Gestaltung beider Elemente ist, um die Unabhängigkeit, sowohl als
objektive Thatsache wie im subjektiven Bewusstsein, hervorzubringen.
Eine solche scheint nun gegeben, wenn zwar ausgedehnte Beziehungen
zu anderen Menschen da sind, aus denen aber alle Elemente eigentlich
individueller Natur entfernt sind; Einflüsse, welche indes gegenseitig
ganz anonym ausgeübt werden; Bestimmungen ohne Rücksicht darauf,
wen sie treffen. Die Ursache wie die Wirkung derartiger objektiver
Abhängigkeiten, bei denen das Subjekt als solches frei ist, liegt
in der Auswechselbarkeit der Personen: in dem freiwilligen oder
durch die Struktur des Verhältnisses bewirkten Wechsel der Subjekte
offenbart sich jene Gleichgültigkeit des subjektiven Momentes der Ab-
hängigkeit, die das Gefühl der Freiheit trägt. Ich erinnere an die
Erfahrung, mit der ich dies Kapitel begann: dass der Wechsel der
Verpflichtungen sehr oft von uns als Freiheit empfunden wird; es ist
dieselbe Verhältnisform zwischen Bindungen und Freiheit, die sich hier
nur in die einzelne Bindung hinein fortsetzt. Ein primitives Beispiel
giebt die charakteristische Differenz des mittelalterlichen Vasallen vom
Unfreien: jener konnte den Herrn wechseln, während dieser unwandel-
bar an einen einzigen gefesselt war. Das bedeutete, selbst wenn das
Mass der Bindung dem Herrn gegenüber, an sich betrachtet, das gleiche
gewesen wäre, für den einen ein unvergleichlich höheres Mass von
Selbständigkeit als für den anderen. Nicht die Bindung überhaupt,
sondern die an einen individuell bestimmten Herrn, ist der eigentliche
Gegenpol der Freiheit. Noch das moderne Dienstbotenverhältnis ist
dadurch bezeichnet, dass die Herrschaft zwar nach den Zeugnissen und
dem persönlichen Eindruck den Dienstboten auswählt, dieser aber zu
einer entsprechenden Wahl seinerseits weder Möglichkeit noch Kriterien
besitzt. Erst in der allerneuesten Zeit hat die Knappheit der Dienst-
boten in den grösseren Städten ihnen hier und da die Chance gewährt,
angebotene Stellen aus imponderabeln Gründen ablehnen zu können.
Von beiden Seiten wird dies als ein gewaltiger Schritt zur Unabhängig-
keit des Dienstboten empfunden, selbst wenn der schliesslich an-
genommene Dienst ihn, seinen thatsächlichen Anforderungen nach, nicht
weniger umfänglich als früher bindet. Darum ist es, die gleiche Form

eines isolierten Subjekts, sondern eine Korrelationserscheinung, die
ihren Sinn verliert, wenn kein Gegenpart da ist. Wenn jedes Ver-
hältnis zwischen Menschen aus Elementen der Annäherung und Ele-
menten der Distanz besteht, so ist Unabhängigkeit eines, in dem die
letzteren zwar ein Maximum geworden, die ersteren aber so wenig ganz
verschwunden sein können, wie aus der Vorstellung des Linken die
des Rechten. Die Frage ist jetzt nur, welches die günstigste konkrete
Gestaltung beider Elemente ist, um die Unabhängigkeit, sowohl als
objektive Thatsache wie im subjektiven Bewuſstsein, hervorzubringen.
Eine solche scheint nun gegeben, wenn zwar ausgedehnte Beziehungen
zu anderen Menschen da sind, aus denen aber alle Elemente eigentlich
individueller Natur entfernt sind; Einflüsse, welche indes gegenseitig
ganz anonym ausgeübt werden; Bestimmungen ohne Rücksicht darauf,
wen sie treffen. Die Ursache wie die Wirkung derartiger objektiver
Abhängigkeiten, bei denen das Subjekt als solches frei ist, liegt
in der Auswechselbarkeit der Personen: in dem freiwilligen oder
durch die Struktur des Verhältnisses bewirkten Wechsel der Subjekte
offenbart sich jene Gleichgültigkeit des subjektiven Momentes der Ab-
hängigkeit, die das Gefühl der Freiheit trägt. Ich erinnere an die
Erfahrung, mit der ich dies Kapitel begann: daſs der Wechsel der
Verpflichtungen sehr oft von uns als Freiheit empfunden wird; es ist
dieselbe Verhältnisform zwischen Bindungen und Freiheit, die sich hier
nur in die einzelne Bindung hinein fortsetzt. Ein primitives Beispiel
giebt die charakteristische Differenz des mittelalterlichen Vasallen vom
Unfreien: jener konnte den Herrn wechseln, während dieser unwandel-
bar an einen einzigen gefesselt war. Das bedeutete, selbst wenn das
Maſs der Bindung dem Herrn gegenüber, an sich betrachtet, das gleiche
gewesen wäre, für den einen ein unvergleichlich höheres Maſs von
Selbständigkeit als für den anderen. Nicht die Bindung überhaupt,
sondern die an einen individuell bestimmten Herrn, ist der eigentliche
Gegenpol der Freiheit. Noch das moderne Dienstbotenverhältnis ist
dadurch bezeichnet, daſs die Herrschaft zwar nach den Zeugnissen und
dem persönlichen Eindruck den Dienstboten auswählt, dieser aber zu
einer entsprechenden Wahl seinerseits weder Möglichkeit noch Kriterien
besitzt. Erst in der allerneuesten Zeit hat die Knappheit der Dienst-
boten in den gröſseren Städten ihnen hier und da die Chance gewährt,
angebotene Stellen aus imponderabeln Gründen ablehnen zu können.
Von beiden Seiten wird dies als ein gewaltiger Schritt zur Unabhängig-
keit des Dienstboten empfunden, selbst wenn der schlieſslich an-
genommene Dienst ihn, seinen thatsächlichen Anforderungen nach, nicht
weniger umfänglich als früher bindet. Darum ist es, die gleiche Form

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[296/0320] eines isolierten Subjekts, sondern eine Korrelationserscheinung, die ihren Sinn verliert, wenn kein Gegenpart da ist. Wenn jedes Ver- hältnis zwischen Menschen aus Elementen der Annäherung und Ele- menten der Distanz besteht, so ist Unabhängigkeit eines, in dem die letzteren zwar ein Maximum geworden, die ersteren aber so wenig ganz verschwunden sein können, wie aus der Vorstellung des Linken die des Rechten. Die Frage ist jetzt nur, welches die günstigste konkrete Gestaltung beider Elemente ist, um die Unabhängigkeit, sowohl als objektive Thatsache wie im subjektiven Bewuſstsein, hervorzubringen. Eine solche scheint nun gegeben, wenn zwar ausgedehnte Beziehungen zu anderen Menschen da sind, aus denen aber alle Elemente eigentlich individueller Natur entfernt sind; Einflüsse, welche indes gegenseitig ganz anonym ausgeübt werden; Bestimmungen ohne Rücksicht darauf, wen sie treffen. Die Ursache wie die Wirkung derartiger objektiver Abhängigkeiten, bei denen das Subjekt als solches frei ist, liegt in der Auswechselbarkeit der Personen: in dem freiwilligen oder durch die Struktur des Verhältnisses bewirkten Wechsel der Subjekte offenbart sich jene Gleichgültigkeit des subjektiven Momentes der Ab- hängigkeit, die das Gefühl der Freiheit trägt. Ich erinnere an die Erfahrung, mit der ich dies Kapitel begann: daſs der Wechsel der Verpflichtungen sehr oft von uns als Freiheit empfunden wird; es ist dieselbe Verhältnisform zwischen Bindungen und Freiheit, die sich hier nur in die einzelne Bindung hinein fortsetzt. Ein primitives Beispiel giebt die charakteristische Differenz des mittelalterlichen Vasallen vom Unfreien: jener konnte den Herrn wechseln, während dieser unwandel- bar an einen einzigen gefesselt war. Das bedeutete, selbst wenn das Maſs der Bindung dem Herrn gegenüber, an sich betrachtet, das gleiche gewesen wäre, für den einen ein unvergleichlich höheres Maſs von Selbständigkeit als für den anderen. Nicht die Bindung überhaupt, sondern die an einen individuell bestimmten Herrn, ist der eigentliche Gegenpol der Freiheit. Noch das moderne Dienstbotenverhältnis ist dadurch bezeichnet, daſs die Herrschaft zwar nach den Zeugnissen und dem persönlichen Eindruck den Dienstboten auswählt, dieser aber zu einer entsprechenden Wahl seinerseits weder Möglichkeit noch Kriterien besitzt. Erst in der allerneuesten Zeit hat die Knappheit der Dienst- boten in den gröſseren Städten ihnen hier und da die Chance gewährt, angebotene Stellen aus imponderabeln Gründen ablehnen zu können. Von beiden Seiten wird dies als ein gewaltiger Schritt zur Unabhängig- keit des Dienstboten empfunden, selbst wenn der schlieſslich an- genommene Dienst ihn, seinen thatsächlichen Anforderungen nach, nicht weniger umfänglich als früher bindet. Darum ist es, die gleiche Form

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/320>, abgerufen am 21.11.2024.