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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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Standes, dieses bestimmte Wergeld wert wäre. Hier setzt nun die weitere
Evolution an, infolge deren die Sühneleistung des Verbrechers nicht als
eine Entschädigung für den von ihm vernichteten Wert, sondern als
Strafe auftritt, und zwar nun nicht nur für den Mord, sondern auch
für andere schwere Vergehen. Alle Strafe, als ein unter der Idee der
Zweckmässigkeit zugefügter Schmerz, kann, soviel ich sehe, nur zwei
Ausgangspunkte haben: das Schutzbedürfnis der Gesellschaft und die
Entschädigungspflicht für den oder die Beschädigten. Denn wenn man
die Strafe auf den Rachetrieb zurückgeführt hat, so scheint mir dieser
selbst noch der Erklärung bedürftig, und sie darin zu finden, dass das
Schutzbedürfnis die Menschen zwingt, den Schädiger unschädlich zu
machen, was eben oft nur durch Schmerzzufügung oder Tötung ge-
schehen kann -- und dass diese Nützlichkeit und Notwendigkeit zu
einem eigenen Triebe ausgewachsen ist: die Beschädigung des Be-
schädigers, ursprünglich ein blosses Mittel, sich vor weiterer Schädi-
gung zu schützen, hat ein selbständiges Lustgefühl, einen von seinen
utilitarischen Wurzeln gelösten Trieb für sich erworben. Der Ursprung
der Strafe aus der Rache würde also schliesslich auch nur auf den
Schutztrieb zurückgehen. Grade dieses macht es auch erklärlich, dass
sehr zivilisierte Zeiten auf den Mord völlige Unschädlichmachung des
Thäters, rohere aber eine gelinde Abfindung setzen. Denn heute
werden im ganzen doch Morde nur von völlig zuchtlosen und moralisch
depravierten Individuen begangen, in roheren oder heroischeren Zeiten
aber auch von ganz anders qualifizierten, deren Überlegenheit und Thatkraft
die Gesellschaft zu konservieren alles Interesse hatte. Es ist also die
Wesensverschiedenheit der Mörder auf den verschiedenen historischen
Stufen, auf die hin die soziale Selbsterhaltung einmal auf Vernichtung,
ein anderes Mal auf eine den Thäter selbst konservierende Sühne
hindrängt. Hier interessiert uns indes nur der andere Ursprung der
Strafe, aus der Entschädigungspflicht. Solange oder insoweit die
Konsequenz einer schädigenden Handlung für den Thäter selbst von
dem Beschädigten vollzogen wird, so wird sie -- abgesehen von jenen
Abwehr- und Racheimpulsen -- sich auf eine Schadloshaltung dieses
letzteren beschränken; ihn wird der subjektive Zustand des Thäters
nicht interessieren, seine Reaktion wird durch die Nützlichkeit für ihn
selbst, nicht durch eine Rücksicht auf jenen bestimmt werden. Das
ändert sich, sobald eine objektive Macht, wie der Staat oder die Kirche,
die Sühne der Missethat übernimmt. Weil nun nicht mehr die Schädi-
gung des Beschädigten als persönliches Ereignis, sondern dieselbe als
Störung des öffentlichen Friedens oder als Verletzung eines ethisch-
religiösen Gesetzes das Motiv der Reaktion bildet, so wird der Zu-

Standes, dieses bestimmte Wergeld wert wäre. Hier setzt nun die weitere
Evolution an, infolge deren die Sühneleistung des Verbrechers nicht als
eine Entschädigung für den von ihm vernichteten Wert, sondern als
Strafe auftritt, und zwar nun nicht nur für den Mord, sondern auch
für andere schwere Vergehen. Alle Strafe, als ein unter der Idee der
Zweckmäſsigkeit zugefügter Schmerz, kann, soviel ich sehe, nur zwei
Ausgangspunkte haben: das Schutzbedürfnis der Gesellschaft und die
Entschädigungspflicht für den oder die Beschädigten. Denn wenn man
die Strafe auf den Rachetrieb zurückgeführt hat, so scheint mir dieser
selbst noch der Erklärung bedürftig, und sie darin zu finden, daſs das
Schutzbedürfnis die Menschen zwingt, den Schädiger unschädlich zu
machen, was eben oft nur durch Schmerzzufügung oder Tötung ge-
schehen kann — und daſs diese Nützlichkeit und Notwendigkeit zu
einem eigenen Triebe ausgewachsen ist: die Beschädigung des Be-
schädigers, ursprünglich ein bloſses Mittel, sich vor weiterer Schädi-
gung zu schützen, hat ein selbständiges Lustgefühl, einen von seinen
utilitarischen Wurzeln gelösten Trieb für sich erworben. Der Ursprung
der Strafe aus der Rache würde also schlieſslich auch nur auf den
Schutztrieb zurückgehen. Grade dieses macht es auch erklärlich, daſs
sehr zivilisierte Zeiten auf den Mord völlige Unschädlichmachung des
Thäters, rohere aber eine gelinde Abfindung setzen. Denn heute
werden im ganzen doch Morde nur von völlig zuchtlosen und moralisch
depravierten Individuen begangen, in roheren oder heroischeren Zeiten
aber auch von ganz anders qualifizierten, deren Überlegenheit und Thatkraft
die Gesellschaft zu konservieren alles Interesse hatte. Es ist also die
Wesensverschiedenheit der Mörder auf den verschiedenen historischen
Stufen, auf die hin die soziale Selbsterhaltung einmal auf Vernichtung,
ein anderes Mal auf eine den Thäter selbst konservierende Sühne
hindrängt. Hier interessiert uns indes nur der andere Ursprung der
Strafe, aus der Entschädigungspflicht. Solange oder insoweit die
Konsequenz einer schädigenden Handlung für den Thäter selbst von
dem Beschädigten vollzogen wird, so wird sie — abgesehen von jenen
Abwehr- und Racheimpulsen — sich auf eine Schadloshaltung dieses
letzteren beschränken; ihn wird der subjektive Zustand des Thäters
nicht interessieren, seine Reaktion wird durch die Nützlichkeit für ihn
selbst, nicht durch eine Rücksicht auf jenen bestimmt werden. Das
ändert sich, sobald eine objektive Macht, wie der Staat oder die Kirche,
die Sühne der Missethat übernimmt. Weil nun nicht mehr die Schädi-
gung des Beschädigten als persönliches Ereignis, sondern dieselbe als
Störung des öffentlichen Friedens oder als Verletzung eines ethisch-
religiösen Gesetzes das Motiv der Reaktion bildet, so wird der Zu-

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[375/0399] Standes, dieses bestimmte Wergeld wert wäre. Hier setzt nun die weitere Evolution an, infolge deren die Sühneleistung des Verbrechers nicht als eine Entschädigung für den von ihm vernichteten Wert, sondern als Strafe auftritt, und zwar nun nicht nur für den Mord, sondern auch für andere schwere Vergehen. Alle Strafe, als ein unter der Idee der Zweckmäſsigkeit zugefügter Schmerz, kann, soviel ich sehe, nur zwei Ausgangspunkte haben: das Schutzbedürfnis der Gesellschaft und die Entschädigungspflicht für den oder die Beschädigten. Denn wenn man die Strafe auf den Rachetrieb zurückgeführt hat, so scheint mir dieser selbst noch der Erklärung bedürftig, und sie darin zu finden, daſs das Schutzbedürfnis die Menschen zwingt, den Schädiger unschädlich zu machen, was eben oft nur durch Schmerzzufügung oder Tötung ge- schehen kann — und daſs diese Nützlichkeit und Notwendigkeit zu einem eigenen Triebe ausgewachsen ist: die Beschädigung des Be- schädigers, ursprünglich ein bloſses Mittel, sich vor weiterer Schädi- gung zu schützen, hat ein selbständiges Lustgefühl, einen von seinen utilitarischen Wurzeln gelösten Trieb für sich erworben. Der Ursprung der Strafe aus der Rache würde also schlieſslich auch nur auf den Schutztrieb zurückgehen. Grade dieses macht es auch erklärlich, daſs sehr zivilisierte Zeiten auf den Mord völlige Unschädlichmachung des Thäters, rohere aber eine gelinde Abfindung setzen. Denn heute werden im ganzen doch Morde nur von völlig zuchtlosen und moralisch depravierten Individuen begangen, in roheren oder heroischeren Zeiten aber auch von ganz anders qualifizierten, deren Überlegenheit und Thatkraft die Gesellschaft zu konservieren alles Interesse hatte. Es ist also die Wesensverschiedenheit der Mörder auf den verschiedenen historischen Stufen, auf die hin die soziale Selbsterhaltung einmal auf Vernichtung, ein anderes Mal auf eine den Thäter selbst konservierende Sühne hindrängt. Hier interessiert uns indes nur der andere Ursprung der Strafe, aus der Entschädigungspflicht. Solange oder insoweit die Konsequenz einer schädigenden Handlung für den Thäter selbst von dem Beschädigten vollzogen wird, so wird sie — abgesehen von jenen Abwehr- und Racheimpulsen — sich auf eine Schadloshaltung dieses letzteren beschränken; ihn wird der subjektive Zustand des Thäters nicht interessieren, seine Reaktion wird durch die Nützlichkeit für ihn selbst, nicht durch eine Rücksicht auf jenen bestimmt werden. Das ändert sich, sobald eine objektive Macht, wie der Staat oder die Kirche, die Sühne der Missethat übernimmt. Weil nun nicht mehr die Schädi- gung des Beschädigten als persönliches Ereignis, sondern dieselbe als Störung des öffentlichen Friedens oder als Verletzung eines ethisch- religiösen Gesetzes das Motiv der Reaktion bildet, so wird der Zu-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/399>, abgerufen am 21.11.2024.