faltigsten Gebiete bestätigen das. Wo im politischen Leben eine Partei Freiheit verlangt oder erlangt, da handelt es sich eigentlich gar nicht um die Freiheit selbst, sondern um diejenigen positiven Gewinne, Machtsteigerungen, Ausbreitungen, die ihr bisher verschlossen waren. Die "Freiheit", die die französische Revolution dem dritten Stande verschaffte, hatte ihre Bedeutung darin, dass ein vierter Stand da war, bezw. sich entwickelte, den jener nun "frei" für sich arbeiten lassen konnte. Die Freiheit der Kirche bedeutet unmittelbar die Ausdehnung ihrer Machtsphäre; nach der Seite ihrer "Lehrfreiheit" z. B., dass der Staat Bürger erhält, welche von ihr geprägt sind und unter ihrer Suggestion stehen. An die Befreiung des unterthänigen Bauern schloss sich in ganz Europa unmittelbar das Bestreben, ihn auch zum Eigen- tümer seiner Scholle zu machen. Wo wirklich der rein negative Sinn der Freiheit wirksam wird, da gilt sie deshalb als Unvollkommenheit und Herabsetzung. Giordano Bruno, in seiner Begeisterung für das einheitlich-gesetzmässige Leben des Kosmos, hält die Freiheit des Willens für einen Mangel, so dass nur der Mensch in seiner Unvollkommenheit sie besässe, Gott aber allein Notwendigkeit zukäme. Und nach diesem ganz abstrakten ein ganz konkretes Beispiel: das Land der preussischen Kossäten befand sich ausserhalb der Flur, auf der die Bauernäcker im Gemenge lagen. Da diese letzteren nur nach gemeinsamer Regel be- arbeitet werden konnten, so hat der Kossät viel mehr individuelle Freiheit; allein er steht ausserhalb des Verbandes, er hat nicht die positive Freiheit, in Flursachen mit zu beschliessen, sondern nur die negative, durch keinen Beschluss gebunden zu sein. Und dies be- gründet es, dass der Kossät es selbst bei bedeutendem Besitz nur zu einer gedrückten und wenig angesehenen Stellung bringt. Die Frei- heit ist eben an sich eine leere Form, die erst mit und an einer Steigerung anderweitiger Lebensinhalte wirksam, lebendig, wertvoll wird. Wenn wir die Vorgänge, durch welche Freiheit gewonnen wird, zergliedern, so bemerken wir stets neben ihrer formalen, den reinen Begriff der Freiheit darstellenden Seite, eine materiell bestimmte, welche aber, indem sie jene zu positiver Bedeutung ergänzt, zugleich ihrerseits eine gewisse Beschränkung enthält, eine Direktive, was nun mit der Freiheit positiv anzufangen wäre. Es würden sich nun alle Akte, mit denen Freiheit gewonnen wird, in eine Skala gliedern lassen, von dem Gesichtspunkt aus: wie erheblich ihr materialer Inhalt und Gewinn ist, im Verhältnis zu ihrem formalen und negativen Momente der Befreiung von bisherigen Bindungen. Bei dem jungen Manne, z. B., der, aus dem Zwange der Schule entlassen, in die studentische Freiheit eintritt, ist das letztere Moment das betontere, und die neue
faltigsten Gebiete bestätigen das. Wo im politischen Leben eine Partei Freiheit verlangt oder erlangt, da handelt es sich eigentlich gar nicht um die Freiheit selbst, sondern um diejenigen positiven Gewinne, Machtsteigerungen, Ausbreitungen, die ihr bisher verschlossen waren. Die „Freiheit“, die die französische Revolution dem dritten Stande verschaffte, hatte ihre Bedeutung darin, daſs ein vierter Stand da war, bezw. sich entwickelte, den jener nun „frei“ für sich arbeiten lassen konnte. Die Freiheit der Kirche bedeutet unmittelbar die Ausdehnung ihrer Machtsphäre; nach der Seite ihrer „Lehrfreiheit“ z. B., daſs der Staat Bürger erhält, welche von ihr geprägt sind und unter ihrer Suggestion stehen. An die Befreiung des unterthänigen Bauern schloſs sich in ganz Europa unmittelbar das Bestreben, ihn auch zum Eigen- tümer seiner Scholle zu machen. Wo wirklich der rein negative Sinn der Freiheit wirksam wird, da gilt sie deshalb als Unvollkommenheit und Herabsetzung. Giordano Bruno, in seiner Begeisterung für das einheitlich-gesetzmäſsige Leben des Kosmos, hält die Freiheit des Willens für einen Mangel, so daſs nur der Mensch in seiner Unvollkommenheit sie besäſse, Gott aber allein Notwendigkeit zukäme. Und nach diesem ganz abstrakten ein ganz konkretes Beispiel: das Land der preuſsischen Kossäten befand sich auſserhalb der Flur, auf der die Bauernäcker im Gemenge lagen. Da diese letzteren nur nach gemeinsamer Regel be- arbeitet werden konnten, so hat der Kossät viel mehr individuelle Freiheit; allein er steht auſserhalb des Verbandes, er hat nicht die positive Freiheit, in Flursachen mit zu beschlieſsen, sondern nur die negative, durch keinen Beschluſs gebunden zu sein. Und dies be- gründet es, daſs der Kossät es selbst bei bedeutendem Besitz nur zu einer gedrückten und wenig angesehenen Stellung bringt. Die Frei- heit ist eben an sich eine leere Form, die erst mit und an einer Steigerung anderweitiger Lebensinhalte wirksam, lebendig, wertvoll wird. Wenn wir die Vorgänge, durch welche Freiheit gewonnen wird, zergliedern, so bemerken wir stets neben ihrer formalen, den reinen Begriff der Freiheit darstellenden Seite, eine materiell bestimmte, welche aber, indem sie jene zu positiver Bedeutung ergänzt, zugleich ihrerseits eine gewisse Beschränkung enthält, eine Direktive, was nun mit der Freiheit positiv anzufangen wäre. Es würden sich nun alle Akte, mit denen Freiheit gewonnen wird, in eine Skala gliedern lassen, von dem Gesichtspunkt aus: wie erheblich ihr materialer Inhalt und Gewinn ist, im Verhältnis zu ihrem formalen und negativen Momente der Befreiung von bisherigen Bindungen. Bei dem jungen Manne, z. B., der, aus dem Zwange der Schule entlassen, in die studentische Freiheit eintritt, ist das letztere Moment das betontere, und die neue
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[421/0445]
faltigsten Gebiete bestätigen das. Wo im politischen Leben eine Partei
Freiheit verlangt oder erlangt, da handelt es sich eigentlich gar nicht
um die Freiheit selbst, sondern um diejenigen positiven Gewinne,
Machtsteigerungen, Ausbreitungen, die ihr bisher verschlossen waren.
Die „Freiheit“, die die französische Revolution dem dritten Stande
verschaffte, hatte ihre Bedeutung darin, daſs ein vierter Stand da war,
bezw. sich entwickelte, den jener nun „frei“ für sich arbeiten lassen
konnte. Die Freiheit der Kirche bedeutet unmittelbar die Ausdehnung
ihrer Machtsphäre; nach der Seite ihrer „Lehrfreiheit“ z. B., daſs der
Staat Bürger erhält, welche von ihr geprägt sind und unter ihrer
Suggestion stehen. An die Befreiung des unterthänigen Bauern schloſs
sich in ganz Europa unmittelbar das Bestreben, ihn auch zum Eigen-
tümer seiner Scholle zu machen. Wo wirklich der rein negative Sinn
der Freiheit wirksam wird, da gilt sie deshalb als Unvollkommenheit
und Herabsetzung. Giordano Bruno, in seiner Begeisterung für das
einheitlich-gesetzmäſsige Leben des Kosmos, hält die Freiheit des Willens
für einen Mangel, so daſs nur der Mensch in seiner Unvollkommenheit
sie besäſse, Gott aber allein Notwendigkeit zukäme. Und nach diesem
ganz abstrakten ein ganz konkretes Beispiel: das Land der preuſsischen
Kossäten befand sich auſserhalb der Flur, auf der die Bauernäcker im
Gemenge lagen. Da diese letzteren nur nach gemeinsamer Regel be-
arbeitet werden konnten, so hat der Kossät viel mehr individuelle
Freiheit; allein er steht auſserhalb des Verbandes, er hat nicht die
positive Freiheit, in Flursachen mit zu beschlieſsen, sondern nur die
negative, durch keinen Beschluſs gebunden zu sein. Und dies be-
gründet es, daſs der Kossät es selbst bei bedeutendem Besitz nur zu
einer gedrückten und wenig angesehenen Stellung bringt. Die Frei-
heit ist eben an sich eine leere Form, die erst mit und an einer
Steigerung anderweitiger Lebensinhalte wirksam, lebendig, wertvoll
wird. Wenn wir die Vorgänge, durch welche Freiheit gewonnen wird,
zergliedern, so bemerken wir stets neben ihrer formalen, den reinen
Begriff der Freiheit darstellenden Seite, eine materiell bestimmte,
welche aber, indem sie jene zu positiver Bedeutung ergänzt, zugleich
ihrerseits eine gewisse Beschränkung enthält, eine Direktive, was nun
mit der Freiheit positiv anzufangen wäre. Es würden sich nun alle
Akte, mit denen Freiheit gewonnen wird, in eine Skala gliedern lassen,
von dem Gesichtspunkt aus: wie erheblich ihr materialer Inhalt und
Gewinn ist, im Verhältnis zu ihrem formalen und negativen Momente
der Befreiung von bisherigen Bindungen. Bei dem jungen Manne,
z. B., der, aus dem Zwange der Schule entlassen, in die studentische
Freiheit eintritt, ist das letztere Moment das betontere, und die neue
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/445>, abgerufen am 22.11.2024.
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