Ausbreitung ohne Widerstand gestattete -- entsprechend dem Schicksal des ungefesteten Menschen, der seine Götter dahingegeben hat und dessen so gewonnene "Freiheit" nur den Raum giebt, jeden beliebigen Augenblickswert zum Götzen aufwachsen zu lassen. Nicht anders er- geht es manchem Kaufmann, für den, von den Sorgen und Arbeiten seines Geschäftes belastet, der Verkauf desselben das ersehnteste Ziel ist. Wenn er dann aber endlich, mit dem Erlös dafür in der Hand, wirklich "frei" ist, so stellt sich oft genug jene typische Langeweile, Lebenszwecklosigkeit, innere Unruhe des Rentiers ein, die ihn zu den wunderlichsten und aller inneren und äusseren Zweckmässigkeit zu- widerlaufendsten Beschäftigungsversuchen treibt, um nur seiner "Frei- heit" einen substanziellen Inhalt einzubauen. Ganz so verhält es sich vielfach mit dem Beamten, der nur möglichst rasch eine Stufe er- reichen will, deren Pension ihm ein "freies" Leben ermöglicht. So erscheint uns mitten in den Qualen und Ängsten der Welt oft der Zustand blosser Ruhe als das absolute Ideal, bis der Genuss derselben uns sehr bald belehrt, dass die Ruhe vor bestimmten Dingen nur wert- voll, ja, nur erträglich ist, wenn sie zugleich die Ruhe zu bestimmten Dingen ist. Während sowohl der ausgekaufte Bauer wie der Rentier gewordene Kaufmann oder der pensionierte Beamte ihre Persönlichkeit aus dem Zwange befreit zu haben scheinen, den die spezifischen Be- dingungen ihrer Besitztümer oder Positionen ihnen anthaten, ist -- in den hier vorausgesetzten Fällen -- thatsächlich das Umgekehrte ein- getreten: sie haben die positiven Inhalte ihres Ich für das Geld dahin- gegeben, das ihnen keine ebensolchen gewährt. Sehr bezeichnend er- zählt ein französischer Reisender von den griechischen Bäuerinnen, die Stickereien fabrizieren und ausserordentlich an ihren sehr mühseligen Arbeiten hängen: elles les donnent, elles les reprennent, elles regar- dent l'argent, puis leur ouvrage, puis l'argent; l'argent finit toujours par avoir raison, et elles s'en vont desolees de se voir si riches. Weil die Freiheit, die das Geld giebt, nur eine potenzielle, formale, negative ist, so bedeutet sein Eintausch gegen positive Lebensinhalte -- wenn sich nicht sogleich andere von anderen Seiten her an die leergewordene Stelle schieben -- den Verkauf von Persönlichkeitswerten. Ganz ent- sprechend dem Verhalten der griechischen Bäuerinnen berichten die Ethnologen von der ausserordentlichen Schwierigkeit, bei Naturvölkern Gebrauchsgegenstände zu erstehen. Denn jeder derselben trägt -- so hat man dies begründet -- nach Ursprung und Bestimmung aus- gesprochen individuelles Gepräge; die ungeheure Mühe, die auf Her- stellung und Ausschmückung des Objekts verwendet wird, und sein Verbleiben im persönlichen Gebrauch lässt es zu einem Bestandstück
Ausbreitung ohne Widerstand gestattete — entsprechend dem Schicksal des ungefesteten Menschen, der seine Götter dahingegeben hat und dessen so gewonnene „Freiheit“ nur den Raum giebt, jeden beliebigen Augenblickswert zum Götzen aufwachsen zu lassen. Nicht anders er- geht es manchem Kaufmann, für den, von den Sorgen und Arbeiten seines Geschäftes belastet, der Verkauf desselben das ersehnteste Ziel ist. Wenn er dann aber endlich, mit dem Erlös dafür in der Hand, wirklich „frei“ ist, so stellt sich oft genug jene typische Langeweile, Lebenszwecklosigkeit, innere Unruhe des Rentiers ein, die ihn zu den wunderlichsten und aller inneren und äuſseren Zweckmäſsigkeit zu- widerlaufendsten Beschäftigungsversuchen treibt, um nur seiner „Frei- heit“ einen substanziellen Inhalt einzubauen. Ganz so verhält es sich vielfach mit dem Beamten, der nur möglichst rasch eine Stufe er- reichen will, deren Pension ihm ein „freies“ Leben ermöglicht. So erscheint uns mitten in den Qualen und Ängsten der Welt oft der Zustand bloſser Ruhe als das absolute Ideal, bis der Genuſs derselben uns sehr bald belehrt, daſs die Ruhe vor bestimmten Dingen nur wert- voll, ja, nur erträglich ist, wenn sie zugleich die Ruhe zu bestimmten Dingen ist. Während sowohl der ausgekaufte Bauer wie der Rentier gewordene Kaufmann oder der pensionierte Beamte ihre Persönlichkeit aus dem Zwange befreit zu haben scheinen, den die spezifischen Be- dingungen ihrer Besitztümer oder Positionen ihnen anthaten, ist — in den hier vorausgesetzten Fällen — thatsächlich das Umgekehrte ein- getreten: sie haben die positiven Inhalte ihres Ich für das Geld dahin- gegeben, das ihnen keine ebensolchen gewährt. Sehr bezeichnend er- zählt ein französischer Reisender von den griechischen Bäuerinnen, die Stickereien fabrizieren und auſserordentlich an ihren sehr mühseligen Arbeiten hängen: elles les donnent, elles les reprennent, elles regar- dent l’argent, puis leur ouvrage, puis l’argent; l’argent finit toujours par avoir raison, et elles s’en vont désolées de se voir si riches. Weil die Freiheit, die das Geld giebt, nur eine potenzielle, formale, negative ist, so bedeutet sein Eintausch gegen positive Lebensinhalte — wenn sich nicht sogleich andere von anderen Seiten her an die leergewordene Stelle schieben — den Verkauf von Persönlichkeitswerten. Ganz ent- sprechend dem Verhalten der griechischen Bäuerinnen berichten die Ethnologen von der auſserordentlichen Schwierigkeit, bei Naturvölkern Gebrauchsgegenstände zu erstehen. Denn jeder derselben trägt — so hat man dies begründet — nach Ursprung und Bestimmung aus- gesprochen individuelles Gepräge; die ungeheure Mühe, die auf Her- stellung und Ausschmückung des Objekts verwendet wird, und sein Verbleiben im persönlichen Gebrauch läſst es zu einem Bestandstück
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Ausbreitung ohne Widerstand gestattete — entsprechend dem Schicksal
des ungefesteten Menschen, der seine Götter dahingegeben hat und
dessen so gewonnene „Freiheit“ nur den Raum giebt, jeden beliebigen
Augenblickswert zum Götzen aufwachsen zu lassen. Nicht anders er-
geht es manchem Kaufmann, für den, von den Sorgen und Arbeiten
seines Geschäftes belastet, der Verkauf desselben das ersehnteste Ziel
ist. Wenn er dann aber endlich, mit dem Erlös dafür in der Hand,
wirklich „frei“ ist, so stellt sich oft genug jene typische Langeweile,
Lebenszwecklosigkeit, innere Unruhe des Rentiers ein, die ihn zu den
wunderlichsten und aller inneren und äuſseren Zweckmäſsigkeit zu-
widerlaufendsten Beschäftigungsversuchen treibt, um nur seiner „Frei-
heit“ einen substanziellen Inhalt einzubauen. Ganz so verhält es sich
vielfach mit dem Beamten, der nur möglichst rasch eine Stufe er-
reichen will, deren Pension ihm ein „freies“ Leben ermöglicht. So
erscheint uns mitten in den Qualen und Ängsten der Welt oft der
Zustand bloſser Ruhe als das absolute Ideal, bis der Genuſs derselben
uns sehr bald belehrt, daſs die Ruhe vor bestimmten Dingen nur wert-
voll, ja, nur erträglich ist, wenn sie zugleich die Ruhe zu bestimmten
Dingen ist. Während sowohl der ausgekaufte Bauer wie der Rentier
gewordene Kaufmann oder der pensionierte Beamte ihre Persönlichkeit
aus dem Zwange befreit zu haben scheinen, den die spezifischen Be-
dingungen ihrer Besitztümer oder Positionen ihnen anthaten, ist — in
den hier vorausgesetzten Fällen — thatsächlich das Umgekehrte ein-
getreten: sie haben die positiven Inhalte ihres Ich für das Geld dahin-
gegeben, das ihnen keine ebensolchen gewährt. Sehr bezeichnend er-
zählt ein französischer Reisender von den griechischen Bäuerinnen, die
Stickereien fabrizieren und auſserordentlich an ihren sehr mühseligen
Arbeiten hängen: elles les donnent, elles les reprennent, elles regar-
dent l’argent, puis leur ouvrage, puis l’argent; l’argent finit toujours
par avoir raison, et elles s’en vont désolées de se voir si riches. Weil
die Freiheit, die das Geld giebt, nur eine potenzielle, formale, negative
ist, so bedeutet sein Eintausch gegen positive Lebensinhalte — wenn
sich nicht sogleich andere von anderen Seiten her an die leergewordene
Stelle schieben — den Verkauf von Persönlichkeitswerten. Ganz ent-
sprechend dem Verhalten der griechischen Bäuerinnen berichten die
Ethnologen von der auſserordentlichen Schwierigkeit, bei Naturvölkern
Gebrauchsgegenstände zu erstehen. Denn jeder derselben trägt — so
hat man dies begründet — nach Ursprung und Bestimmung aus-
gesprochen individuelles Gepräge; die ungeheure Mühe, die auf Her-
stellung und Ausschmückung des Objekts verwendet wird, und sein
Verbleiben im persönlichen Gebrauch läſst es zu einem Bestandstück
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/447>, abgerufen am 22.11.2024.
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