unsre Besitztümer erst richtig schätzen, wenn wir sie verloren haben, ist nur eine in ausgebildete Verhältnisse hineingewachsene Fort- setzung ihres Wertungsmotives überhaupt: die Empfindungsvorstellung muss erst durch Schwierigkeiten und Entsagungen von ihrer naiven Verbindung mit dem Gegenstande abgetrennt sein, damit uns dieser für sich bedeutsam werde. Der Zustand, den die Vorstellung des Paradieses stilisiert und in dem Subjekt und Objekt, Begehrung und Erfüllung noch nicht auseinandergewachsen sind -- ein Zustand nicht etwa einer historisch abgegrenzten Epoche, sondern ein allent- halben und in sehr mannigfachen Graden auftretender -- ist freilich zur Auflösung bestimmt, aber eben damit auch wieder zur Ver- söhnung: der Sinn jener Distanzierung ist, dass sie überwunden werde. Die Sehnsucht, Bemühung, Aufopferung, die sich zwischen uns und die Dinge schieben, sind es doch, die sie uns zuführen sollen. Distanzierung und Annäherung sind auch im Praktischen Wechsel- begriffe, jedes das andere voraussetzend und beide die Seiten der Be- ziehung zu den Dingen bildend, die wir, subjektiv, unser Begehren, ob- jektiv, ihren Wert nennen. Den genossenen Gegenstand freilich müssen wir von uns entfernen, um ihn wieder zu begehren; dem fernen gegen- über aber ist dies Begehren die erste Stufe der Annäherung, die erste ideelle Beziehung zu ihm. Diese Doppelbedeutung des Begehrens: dass es nur bei einer Distanz gegen die Dinge entstehen kann, die es eben zu überwinden strebt, dass es aber doch irgend ein Nahesein zwischen den Dingen und uns schon voraussetzt, damit die vorhandene Distanz überhaupt empfunden werde -- hat Plato in dem schönen Worte aus- gesprochen, dass die Liebe ein mittlerer Zustand zwischen Haben und Nicht-Haben sei. Die Notwendigkeit des Opfers, die Erfahrung, dass das Begehren nicht umsonst gestillt wird, ist nur die Verschärfung oder Potenzierung dieses Verhältnisses: sie bringt uns die Entfernung zwischen unserem gegenwärtigen Ich und dem Genuss der Dinge zum eindringlichsten Bewusstsein; aber eben dadurch, dass sie uns auf den Weg zu ihrer Überwindung führt. Diese innere Entwicklung zu dem gleichzeitigen Wachstum von Distanz und Annäherung tritt deutlich auch als historischer Differenzierungsprozess auf. Die Kultur bewirkt eine Vergrösserung des Interessenkreises, d. h., dass die Peripherie, in der die Gegenstände des Interesses sich befinden, immer weiter von dem Zentrum, d. h. dem Ich abrückt. Diese Entfernung ist aber nur durch eine gleichzeitige Annäherung möglich. Wenn für den modernen Menschen Objekte, Personen und Vorgänge, die hundert oder tausend Meilen von ihm entfernt sind, vitale Bedeutung besitzen, so müssen sie ihm zunächst näher gebracht sein als dem Naturmenschen, für den dergleichen
unsre Besitztümer erst richtig schätzen, wenn wir sie verloren haben, ist nur eine in ausgebildete Verhältnisse hineingewachsene Fort- setzung ihres Wertungsmotives überhaupt: die Empfindungsvorstellung muſs erst durch Schwierigkeiten und Entsagungen von ihrer naiven Verbindung mit dem Gegenstande abgetrennt sein, damit uns dieser für sich bedeutsam werde. Der Zustand, den die Vorstellung des Paradieses stilisiert und in dem Subjekt und Objekt, Begehrung und Erfüllung noch nicht auseinandergewachsen sind — ein Zustand nicht etwa einer historisch abgegrenzten Epoche, sondern ein allent- halben und in sehr mannigfachen Graden auftretender — ist freilich zur Auflösung bestimmt, aber eben damit auch wieder zur Ver- söhnung: der Sinn jener Distanzierung ist, daſs sie überwunden werde. Die Sehnsucht, Bemühung, Aufopferung, die sich zwischen uns und die Dinge schieben, sind es doch, die sie uns zuführen sollen. Distanzierung und Annäherung sind auch im Praktischen Wechsel- begriffe, jedes das andere voraussetzend und beide die Seiten der Be- ziehung zu den Dingen bildend, die wir, subjektiv, unser Begehren, ob- jektiv, ihren Wert nennen. Den genossenen Gegenstand freilich müssen wir von uns entfernen, um ihn wieder zu begehren; dem fernen gegen- über aber ist dies Begehren die erste Stufe der Annäherung, die erste ideelle Beziehung zu ihm. Diese Doppelbedeutung des Begehrens: daſs es nur bei einer Distanz gegen die Dinge entstehen kann, die es eben zu überwinden strebt, daſs es aber doch irgend ein Nahesein zwischen den Dingen und uns schon voraussetzt, damit die vorhandene Distanz überhaupt empfunden werde — hat Plato in dem schönen Worte aus- gesprochen, daſs die Liebe ein mittlerer Zustand zwischen Haben und Nicht-Haben sei. Die Notwendigkeit des Opfers, die Erfahrung, daſs das Begehren nicht umsonst gestillt wird, ist nur die Verschärfung oder Potenzierung dieses Verhältnisses: sie bringt uns die Entfernung zwischen unserem gegenwärtigen Ich und dem Genuſs der Dinge zum eindringlichsten Bewuſstsein; aber eben dadurch, daſs sie uns auf den Weg zu ihrer Überwindung führt. Diese innere Entwicklung zu dem gleichzeitigen Wachstum von Distanz und Annäherung tritt deutlich auch als historischer Differenzierungsprozeſs auf. Die Kultur bewirkt eine Vergröſserung des Interessenkreises, d. h., daſs die Peripherie, in der die Gegenstände des Interesses sich befinden, immer weiter von dem Zentrum, d. h. dem Ich abrückt. Diese Entfernung ist aber nur durch eine gleichzeitige Annäherung möglich. Wenn für den modernen Menschen Objekte, Personen und Vorgänge, die hundert oder tausend Meilen von ihm entfernt sind, vitale Bedeutung besitzen, so müssen sie ihm zunächst näher gebracht sein als dem Naturmenschen, für den dergleichen
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unsre Besitztümer erst richtig schätzen, wenn wir sie verloren haben,
ist nur eine in ausgebildete Verhältnisse hineingewachsene Fort-
setzung ihres Wertungsmotives überhaupt: die Empfindungsvorstellung
muſs erst durch Schwierigkeiten und Entsagungen von ihrer naiven
Verbindung mit dem Gegenstande abgetrennt sein, damit uns dieser
für sich bedeutsam werde. Der Zustand, den die Vorstellung des
Paradieses stilisiert und in dem Subjekt und Objekt, Begehrung
und Erfüllung noch nicht auseinandergewachsen sind — ein Zustand
nicht etwa einer historisch abgegrenzten Epoche, sondern ein allent-
halben und in sehr mannigfachen Graden auftretender — ist freilich
zur Auflösung bestimmt, aber eben damit auch wieder zur Ver-
söhnung: der Sinn jener Distanzierung ist, daſs sie überwunden werde.
Die Sehnsucht, Bemühung, Aufopferung, die sich zwischen uns
und die Dinge schieben, sind es doch, die sie uns zuführen sollen.
Distanzierung und Annäherung sind auch im Praktischen Wechsel-
begriffe, jedes das andere voraussetzend und beide die Seiten der Be-
ziehung zu den Dingen bildend, die wir, subjektiv, unser Begehren, ob-
jektiv, ihren Wert nennen. Den genossenen Gegenstand freilich müssen
wir von uns entfernen, um ihn wieder zu begehren; dem fernen gegen-
über aber ist dies Begehren die erste Stufe der Annäherung, die erste
ideelle Beziehung zu ihm. Diese Doppelbedeutung des Begehrens: daſs
es nur bei einer Distanz gegen die Dinge entstehen kann, die es eben
zu überwinden strebt, daſs es aber doch irgend ein Nahesein zwischen
den Dingen und uns schon voraussetzt, damit die vorhandene Distanz
überhaupt empfunden werde — hat Plato in dem schönen Worte aus-
gesprochen, daſs die Liebe ein mittlerer Zustand zwischen Haben und
Nicht-Haben sei. Die Notwendigkeit des Opfers, die Erfahrung, daſs
das Begehren nicht umsonst gestillt wird, ist nur die Verschärfung oder
Potenzierung dieses Verhältnisses: sie bringt uns die Entfernung
zwischen unserem gegenwärtigen Ich und dem Genuſs der Dinge zum
eindringlichsten Bewuſstsein; aber eben dadurch, daſs sie uns auf den
Weg zu ihrer Überwindung führt. Diese innere Entwicklung zu dem
gleichzeitigen Wachstum von Distanz und Annäherung tritt deutlich
auch als historischer Differenzierungsprozeſs auf. Die Kultur bewirkt
eine Vergröſserung des Interessenkreises, d. h., daſs die Peripherie, in
der die Gegenstände des Interesses sich befinden, immer weiter von
dem Zentrum, d. h. dem Ich abrückt. Diese Entfernung ist aber nur
durch eine gleichzeitige Annäherung möglich. Wenn für den modernen
Menschen Objekte, Personen und Vorgänge, die hundert oder tausend
Meilen von ihm entfernt sind, vitale Bedeutung besitzen, so müssen sie ihm
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/50>, abgerufen am 23.11.2024.
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