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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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heute die Maschine, an der sie zu thun haben, d. h. den in der Ma-
schine investierten Geist verstehen? Nicht anders liegt es in der mili-
tärischen Kultur. Was der einzelne Soldat zu leisten hat, ist im
wesentlichen seit lange unverändert geblieben, ja, in manchem durch
die moderne Art der Kriegführung herabgesetzt. Dagegen sind nicht
nur die materiellen Werkzeuge derselben, sondern vor allem die jen-
seits aller Individuen stehende Organisation des Heeres unerhört ver-
feinert und zu einem wahren Triumph objektiver Kultur geworden.
Und auf das Gebiet des rein Geistigen hinsehend -- so operieren auch
die kenntnisreichsten und nachdenkendsten Menschen mit einer immer
wachsenden Zahl von Vorstellungen, Begriffen, Sätzen, deren genauen
Sinn und Inhalt sie nur ganz unvollständig kennen. Die ungeheure
Ausdehnung des objektiv vorliegenden Wissensstoffes gestattet, ja er-
zwingt den Gebrauch von Ausdrücken, die eigentlich wie verschlossene
Gefässe von Hand zu Hand gehen, ohne dass der thatsächlich darin ver-
dichtete Gedankengehalt sich für den einzelnen Gebraucher entfaltete.
Wie unser äusseres Leben von immer mehr Gegenständen umgeben
wird, deren objektiven, in ihrem Produktionsprozess aufgewandten Geist
wir nicht entfernt ausdenken, so ist unser geistiges Innen- und Ver-
kehrsleben von symbolisch gewordenen Gebilden erfüllt, in denen eine
umfassende Geistigkeit aufgespeichert ist -- während der individuelle
Geist davon nur ein Minimum auszunutzen pflegt. Diese Diskrepanz
zwischen der objektiv gewordenen und der subjektiven Kultur scheint
sich stetig zu erweitern. Täglich und von allen Seiten her wird der
Schatz jener vermehrt, aber nur wie aus weiter Entfernung ihr folgend
und in einer nur wenig zu steigernden Beschleunigung kann der in-
dividuelle Geist die Formen und Inhalte seiner Bildung erweitern.

Wie erklärt sich nun diese Erscheinung? Wenn alle Kultur der
Dinge, wie wir sahen, nur eine Kultur der Menschen ist, so dass nur
wir uns ausbilden, indem wir die Dinge ausbilden -- was bedeutet
jene Entwicklung, Ausgestaltung, Vergeistigung der Objekte, die sich
wie aus deren eigenen Kräften und Normen heraus vollzieht und
ohne dass sich einzelne Seelen darin oder daran entsprechend ent-
falteten? Hierin liegt eine Steigerung des rätselhaften Verhältnisses
vor, das überhaupt zwischen dem Leben und den Lebensprodukten der
Gesellschaft einerseits und den fragmentarischen Daseinsinhalten der
Individuen andrerseits besteht. In Sprache und Sitte, politischer Ver-
fassung und Religionslehren, Litteratur und Technik ist die Arbeit un-
zähliger Generationen niedergelegt, als gegenständlich gewordener Geist,
von dem jeder nimmt, so viel wie er will oder kann, den aber über-
haupt kein Einzelner ausschöpfen könnte; zwischen dem Mass dieses

heute die Maschine, an der sie zu thun haben, d. h. den in der Ma-
schine investierten Geist verstehen? Nicht anders liegt es in der mili-
tärischen Kultur. Was der einzelne Soldat zu leisten hat, ist im
wesentlichen seit lange unverändert geblieben, ja, in manchem durch
die moderne Art der Kriegführung herabgesetzt. Dagegen sind nicht
nur die materiellen Werkzeuge derselben, sondern vor allem die jen-
seits aller Individuen stehende Organisation des Heeres unerhört ver-
feinert und zu einem wahren Triumph objektiver Kultur geworden.
Und auf das Gebiet des rein Geistigen hinsehend — so operieren auch
die kenntnisreichsten und nachdenkendsten Menschen mit einer immer
wachsenden Zahl von Vorstellungen, Begriffen, Sätzen, deren genauen
Sinn und Inhalt sie nur ganz unvollständig kennen. Die ungeheure
Ausdehnung des objektiv vorliegenden Wissensstoffes gestattet, ja er-
zwingt den Gebrauch von Ausdrücken, die eigentlich wie verschlossene
Gefäſse von Hand zu Hand gehen, ohne daſs der thatsächlich darin ver-
dichtete Gedankengehalt sich für den einzelnen Gebraucher entfaltete.
Wie unser äuſseres Leben von immer mehr Gegenständen umgeben
wird, deren objektiven, in ihrem Produktionsprozeſs aufgewandten Geist
wir nicht entfernt ausdenken, so ist unser geistiges Innen- und Ver-
kehrsleben von symbolisch gewordenen Gebilden erfüllt, in denen eine
umfassende Geistigkeit aufgespeichert ist — während der individuelle
Geist davon nur ein Minimum auszunutzen pflegt. Diese Diskrepanz
zwischen der objektiv gewordenen und der subjektiven Kultur scheint
sich stetig zu erweitern. Täglich und von allen Seiten her wird der
Schatz jener vermehrt, aber nur wie aus weiter Entfernung ihr folgend
und in einer nur wenig zu steigernden Beschleunigung kann der in-
dividuelle Geist die Formen und Inhalte seiner Bildung erweitern.

Wie erklärt sich nun diese Erscheinung? Wenn alle Kultur der
Dinge, wie wir sahen, nur eine Kultur der Menschen ist, so daſs nur
wir uns ausbilden, indem wir die Dinge ausbilden — was bedeutet
jene Entwicklung, Ausgestaltung, Vergeistigung der Objekte, die sich
wie aus deren eigenen Kräften und Normen heraus vollzieht und
ohne daſs sich einzelne Seelen darin oder daran entsprechend ent-
falteten? Hierin liegt eine Steigerung des rätselhaften Verhältnisses
vor, das überhaupt zwischen dem Leben und den Lebensprodukten der
Gesellschaft einerseits und den fragmentarischen Daseinsinhalten der
Individuen andrerseits besteht. In Sprache und Sitte, politischer Ver-
fassung und Religionslehren, Litteratur und Technik ist die Arbeit un-
zähliger Generationen niedergelegt, als gegenständlich gewordener Geist,
von dem jeder nimmt, so viel wie er will oder kann, den aber über-
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[478/0502] heute die Maschine, an der sie zu thun haben, d. h. den in der Ma- schine investierten Geist verstehen? Nicht anders liegt es in der mili- tärischen Kultur. Was der einzelne Soldat zu leisten hat, ist im wesentlichen seit lange unverändert geblieben, ja, in manchem durch die moderne Art der Kriegführung herabgesetzt. Dagegen sind nicht nur die materiellen Werkzeuge derselben, sondern vor allem die jen- seits aller Individuen stehende Organisation des Heeres unerhört ver- feinert und zu einem wahren Triumph objektiver Kultur geworden. Und auf das Gebiet des rein Geistigen hinsehend — so operieren auch die kenntnisreichsten und nachdenkendsten Menschen mit einer immer wachsenden Zahl von Vorstellungen, Begriffen, Sätzen, deren genauen Sinn und Inhalt sie nur ganz unvollständig kennen. Die ungeheure Ausdehnung des objektiv vorliegenden Wissensstoffes gestattet, ja er- zwingt den Gebrauch von Ausdrücken, die eigentlich wie verschlossene Gefäſse von Hand zu Hand gehen, ohne daſs der thatsächlich darin ver- dichtete Gedankengehalt sich für den einzelnen Gebraucher entfaltete. Wie unser äuſseres Leben von immer mehr Gegenständen umgeben wird, deren objektiven, in ihrem Produktionsprozeſs aufgewandten Geist wir nicht entfernt ausdenken, so ist unser geistiges Innen- und Ver- kehrsleben von symbolisch gewordenen Gebilden erfüllt, in denen eine umfassende Geistigkeit aufgespeichert ist — während der individuelle Geist davon nur ein Minimum auszunutzen pflegt. Diese Diskrepanz zwischen der objektiv gewordenen und der subjektiven Kultur scheint sich stetig zu erweitern. Täglich und von allen Seiten her wird der Schatz jener vermehrt, aber nur wie aus weiter Entfernung ihr folgend und in einer nur wenig zu steigernden Beschleunigung kann der in- dividuelle Geist die Formen und Inhalte seiner Bildung erweitern. Wie erklärt sich nun diese Erscheinung? Wenn alle Kultur der Dinge, wie wir sahen, nur eine Kultur der Menschen ist, so daſs nur wir uns ausbilden, indem wir die Dinge ausbilden — was bedeutet jene Entwicklung, Ausgestaltung, Vergeistigung der Objekte, die sich wie aus deren eigenen Kräften und Normen heraus vollzieht und ohne daſs sich einzelne Seelen darin oder daran entsprechend ent- falteten? Hierin liegt eine Steigerung des rätselhaften Verhältnisses vor, das überhaupt zwischen dem Leben und den Lebensprodukten der Gesellschaft einerseits und den fragmentarischen Daseinsinhalten der Individuen andrerseits besteht. In Sprache und Sitte, politischer Ver- fassung und Religionslehren, Litteratur und Technik ist die Arbeit un- zähliger Generationen niedergelegt, als gegenständlich gewordener Geist, von dem jeder nimmt, so viel wie er will oder kann, den aber über- haupt kein Einzelner ausschöpfen könnte; zwischen dem Maſs dieses

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/502>, abgerufen am 20.05.2024.