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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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es die Eigenwertigkeit der ästhetischen, wissenschaftlichen, sittlichen,
eudämonistischen, ja der religiösen Leistung aufhebt, um sie alle als
Elemente oder Bausteine in die Entwicklung des menschlichen Wesens
über seinen Naturzustand hinaus einzufügen; oder genauer: sie sind
die Wegstrecken, die diese Entwicklung durchläuft. Freilich muss
sie sich in jedem Augenblick auf einer dieser Strecken befinden; sie
kann niemals ohne einen Inhalt rein formell und an sich selbst ver-
laufen; allein darum ist sie mit diesem Inhalt noch nicht identisch.
Die Kulturinhalte bestehen aus jenen Gebilden, deren jedes einem auto-
nomen Ideal untersteht, nun aber betrachtet unter dem Blickpunkt der von
ihnen getragenen und durch sie hindurchbewegten Entwicklung unserer
Kräfte über das Mass hinaus, das wir als das bloss natürliche ansehen.
Indem der Mensch die Objekte kultiviert, schafft er sie sich zum Bilde:
insofern die transnaturale Entfaltung ihrer Energien als Kulturprozess
gilt, ist sie nur die Sichtbarkeit oder der Körper für die gleiche Ent-
faltung unserer Energien.

Dieser Erörterung des allgemeinen Kulturbegriffs stelle ich nun ein
besonderes Verhältnis innerhalb der gegenwärtigen Kultur gegenüber.
Vergleicht man dieselbe etwa mit der Zeit vor hundert Jahren, so
kann man -- viele individuelle Ausnahmen vorbehalten -- doch wohl
sagen: die Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben,
Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik,
der Kunst -- sind unsäglich kultiviert, aber die Kultur der Individuen,
wenigstens in den höheren Ständen, ist keineswegs in demselben Ver-
hältnis vorgeschritten, ja vielfach sogar zurückgegangen. Dies ist ein
keines Einzelbeweises bedürftiges Verhältnis. Ich hebe darum nur
weniges hervor. Die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten haben sich,
im Deutschen wie im Französischen, seit hundert Jahren ausserordent-
lich bereichert und nüanciert; nicht nur die Sprache Goethes ist uns
geschenkt, sondern es ist noch eine grosse Anzahl von Feinheiten, Ab-
tönungen, Individualisierungen des Ausdrucks hinzugekommen. Dennoch,
wenn man das Sprechen und Schreiben der Einzelnen betrachtet, so wird
es als ganzes immer inkorrekter, würdeloser und trivialer. Und in-
haltlich: der Gesichtskreis, aus dem die Konversation ihre Gegenstände
schöpft, hat sich objektiv, durch die vorgeschrittene Theorie und Praxis,
in derselben Zeit erheblich erweitert; und doch scheint es, als ob die
Unterhaltung, die gesellschaftliche wie auch die intimere und briefliche,
jetzt viel flacher, uninteressanter und weniger ernsthaft wäre als am
Ende des 18. Jahrhunderts. In diese Kategorie gehört es, dass die
Maschine so viel geistvoller geworden ist als der Arbeiter. Wieviele
Arbeiter, sogar unterhalb der eigentlichen Grossindustrie, könnten denn

es die Eigenwertigkeit der ästhetischen, wissenschaftlichen, sittlichen,
eudämonistischen, ja der religiösen Leistung aufhebt, um sie alle als
Elemente oder Bausteine in die Entwicklung des menschlichen Wesens
über seinen Naturzustand hinaus einzufügen; oder genauer: sie sind
die Wegstrecken, die diese Entwicklung durchläuft. Freilich muſs
sie sich in jedem Augenblick auf einer dieser Strecken befinden; sie
kann niemals ohne einen Inhalt rein formell und an sich selbst ver-
laufen; allein darum ist sie mit diesem Inhalt noch nicht identisch.
Die Kulturinhalte bestehen aus jenen Gebilden, deren jedes einem auto-
nomen Ideal untersteht, nun aber betrachtet unter dem Blickpunkt der von
ihnen getragenen und durch sie hindurchbewegten Entwicklung unserer
Kräfte über das Maſs hinaus, das wir als das bloſs natürliche ansehen.
Indem der Mensch die Objekte kultiviert, schafft er sie sich zum Bilde:
insofern die transnaturale Entfaltung ihrer Energien als Kulturprozeſs
gilt, ist sie nur die Sichtbarkeit oder der Körper für die gleiche Ent-
faltung unserer Energien.

Dieser Erörterung des allgemeinen Kulturbegriffs stelle ich nun ein
besonderes Verhältnis innerhalb der gegenwärtigen Kultur gegenüber.
Vergleicht man dieselbe etwa mit der Zeit vor hundert Jahren, so
kann man — viele individuelle Ausnahmen vorbehalten — doch wohl
sagen: die Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben,
Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik,
der Kunst — sind unsäglich kultiviert, aber die Kultur der Individuen,
wenigstens in den höheren Ständen, ist keineswegs in demselben Ver-
hältnis vorgeschritten, ja vielfach sogar zurückgegangen. Dies ist ein
keines Einzelbeweises bedürftiges Verhältnis. Ich hebe darum nur
weniges hervor. Die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten haben sich,
im Deutschen wie im Französischen, seit hundert Jahren auſserordent-
lich bereichert und nüanciert; nicht nur die Sprache Goethes ist uns
geschenkt, sondern es ist noch eine groſse Anzahl von Feinheiten, Ab-
tönungen, Individualisierungen des Ausdrucks hinzugekommen. Dennoch,
wenn man das Sprechen und Schreiben der Einzelnen betrachtet, so wird
es als ganzes immer inkorrekter, würdeloser und trivialer. Und in-
haltlich: der Gesichtskreis, aus dem die Konversation ihre Gegenstände
schöpft, hat sich objektiv, durch die vorgeschrittene Theorie und Praxis,
in derselben Zeit erheblich erweitert; und doch scheint es, als ob die
Unterhaltung, die gesellschaftliche wie auch die intimere und briefliche,
jetzt viel flacher, uninteressanter und weniger ernsthaft wäre als am
Ende des 18. Jahrhunderts. In diese Kategorie gehört es, daſs die
Maschine so viel geistvoller geworden ist als der Arbeiter. Wieviele
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[477/0501] es die Eigenwertigkeit der ästhetischen, wissenschaftlichen, sittlichen, eudämonistischen, ja der religiösen Leistung aufhebt, um sie alle als Elemente oder Bausteine in die Entwicklung des menschlichen Wesens über seinen Naturzustand hinaus einzufügen; oder genauer: sie sind die Wegstrecken, die diese Entwicklung durchläuft. Freilich muſs sie sich in jedem Augenblick auf einer dieser Strecken befinden; sie kann niemals ohne einen Inhalt rein formell und an sich selbst ver- laufen; allein darum ist sie mit diesem Inhalt noch nicht identisch. Die Kulturinhalte bestehen aus jenen Gebilden, deren jedes einem auto- nomen Ideal untersteht, nun aber betrachtet unter dem Blickpunkt der von ihnen getragenen und durch sie hindurchbewegten Entwicklung unserer Kräfte über das Maſs hinaus, das wir als das bloſs natürliche ansehen. Indem der Mensch die Objekte kultiviert, schafft er sie sich zum Bilde: insofern die transnaturale Entfaltung ihrer Energien als Kulturprozeſs gilt, ist sie nur die Sichtbarkeit oder der Körper für die gleiche Ent- faltung unserer Energien. Dieser Erörterung des allgemeinen Kulturbegriffs stelle ich nun ein besonderes Verhältnis innerhalb der gegenwärtigen Kultur gegenüber. Vergleicht man dieselbe etwa mit der Zeit vor hundert Jahren, so kann man — viele individuelle Ausnahmen vorbehalten — doch wohl sagen: die Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst — sind unsäglich kultiviert, aber die Kultur der Individuen, wenigstens in den höheren Ständen, ist keineswegs in demselben Ver- hältnis vorgeschritten, ja vielfach sogar zurückgegangen. Dies ist ein keines Einzelbeweises bedürftiges Verhältnis. Ich hebe darum nur weniges hervor. Die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten haben sich, im Deutschen wie im Französischen, seit hundert Jahren auſserordent- lich bereichert und nüanciert; nicht nur die Sprache Goethes ist uns geschenkt, sondern es ist noch eine groſse Anzahl von Feinheiten, Ab- tönungen, Individualisierungen des Ausdrucks hinzugekommen. Dennoch, wenn man das Sprechen und Schreiben der Einzelnen betrachtet, so wird es als ganzes immer inkorrekter, würdeloser und trivialer. Und in- haltlich: der Gesichtskreis, aus dem die Konversation ihre Gegenstände schöpft, hat sich objektiv, durch die vorgeschrittene Theorie und Praxis, in derselben Zeit erheblich erweitert; und doch scheint es, als ob die Unterhaltung, die gesellschaftliche wie auch die intimere und briefliche, jetzt viel flacher, uninteressanter und weniger ernsthaft wäre als am Ende des 18. Jahrhunderts. In diese Kategorie gehört es, daſs die Maschine so viel geistvoller geworden ist als der Arbeiter. Wieviele Arbeiter, sogar unterhalb der eigentlichen Groſsindustrie, könnten denn

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/501>, abgerufen am 22.11.2024.