viel gründlicher ausschöpfen. Deshalb sehen wir zwar auf manchen Gebieten den Rhythmus als das spätere, das rationalistisch-systema- tische Prinzip als die nicht zu überwindende Entwicklungsstufe, andere aber lassen diese der Gestaltung von Fall zu Fall Platz machen und lösen die Vorbestimmtheit des mitgebrachten Schemas in die wechseln- den Ansprüche der Sache selbst auf. So sehen wir z. B. dass erst in höheren Kulturverhältnissen die Einrichtung regelmässiger Mahlzeiten den Tag im allgemeinen rhythmisch gliedert; eine Mehrzahl fester täglicher Mahlzeiten scheint bei keinem Naturvolk vorzukommen. Im Gegensatz dazu haben wir freilich schon oben bemerkt, dass in Bezug auf das Ganze der Ernährung Naturvölker oft einen regelmässigen Rhythmus von Entbehrungsperioden und Zeiten schwelgerischen Verjubelns haben, den die höhere Wirtschaftstechnik völlig abgelegt hat. Allein jene Gleichmässigkeit täglicher Mahlzeiten erreicht ihre grosse Stabilität zwar auf sehr hohen, vielleicht aber doch nicht auf den allerhöchsten Stufen der sozialen und geistigen Skala. In der obersten Gesell- schaftsschicht erleidet dieselbe durch den Beruf, die Geselligkeit und komplizierte Rücksichten vielerlei Art wieder manchen Abbruch, und zu eben demselben werden den Künstler und den Gelehrten die wechselnden Anforderungen der Sache wie der Stimmungen des Tages veranlassen. Dies weist schon darauf hin, wie sehr der Rhythmus der Mahlzeiten -- und sein Gegenteil -- dem der Arbeit entspricht. Auch hier lassen verschiedne Reihen ganz verschiedne Verhältnisse erkennen. Der Naturmensch arbeitet genau so unregelmässig, wie er isst. Auf gewaltige Kraftanstrengungen, zu denen die zufällige Not oder Laune ihn treibt, folgen Zeiten absoluter Faulheit, beides ganz zufällig und prinziplos abwechselnd. Wahrscheinlich mit Recht hat man, wenigstens für die nördlicheren Länder, mit dem pflugmässigen Ackerbau erst eine feste Ordnung der Thätigkeiten, einen sinnvollen Rhythmus von Anspannung und Abspannung der Kräfte beginnen lassen. Diese Rhythmik erreicht ihren äussersten Grad etwa bei der höheren Fabrik- arbeit und bei der Arbeit in Bureaus jeder Art. Auf den Gipfeln der kulturellen Thätigkeit, der wissenschaftlichen, politischen, künstlerischen, kommerziellen, pflegt sie wieder stark herabzusinken; so dass sogar, wenn wir etwa von einem Schriftsteller hören, dass er täglich zu gleicher Minute die Feder in die Hand nimmt und sie zu gleicher wieder fortlegt, dieser stationäre Rhythmus der Produktion uns gegen ihre Inspiration und innere Bedeutung misstrauisch macht. Aber auch innerhalb des Lohnarbeitertums führt die Entwicklung, wenn auch aus ganz andern Motiven, zu Ungleichmässigkeit und Unberechenbarkeit als der späteren Stufe. Bei dem Aufkommen der englischen Grossindustrie litten die
Simmel, Philosophie des Geldes. 34
viel gründlicher ausschöpfen. Deshalb sehen wir zwar auf manchen Gebieten den Rhythmus als das spätere, das rationalistisch-systema- tische Prinzip als die nicht zu überwindende Entwicklungsstufe, andere aber lassen diese der Gestaltung von Fall zu Fall Platz machen und lösen die Vorbestimmtheit des mitgebrachten Schemas in die wechseln- den Ansprüche der Sache selbst auf. So sehen wir z. B. daſs erst in höheren Kulturverhältnissen die Einrichtung regelmäſsiger Mahlzeiten den Tag im allgemeinen rhythmisch gliedert; eine Mehrzahl fester täglicher Mahlzeiten scheint bei keinem Naturvolk vorzukommen. Im Gegensatz dazu haben wir freilich schon oben bemerkt, daſs in Bezug auf das Ganze der Ernährung Naturvölker oft einen regelmäſsigen Rhythmus von Entbehrungsperioden und Zeiten schwelgerischen Verjubelns haben, den die höhere Wirtschaftstechnik völlig abgelegt hat. Allein jene Gleichmäſsigkeit täglicher Mahlzeiten erreicht ihre groſse Stabilität zwar auf sehr hohen, vielleicht aber doch nicht auf den allerhöchsten Stufen der sozialen und geistigen Skala. In der obersten Gesell- schaftsschicht erleidet dieselbe durch den Beruf, die Geselligkeit und komplizierte Rücksichten vielerlei Art wieder manchen Abbruch, und zu eben demselben werden den Künstler und den Gelehrten die wechselnden Anforderungen der Sache wie der Stimmungen des Tages veranlassen. Dies weist schon darauf hin, wie sehr der Rhythmus der Mahlzeiten — und sein Gegenteil — dem der Arbeit entspricht. Auch hier lassen verschiedne Reihen ganz verschiedne Verhältnisse erkennen. Der Naturmensch arbeitet genau so unregelmäſsig, wie er iſst. Auf gewaltige Kraftanstrengungen, zu denen die zufällige Not oder Laune ihn treibt, folgen Zeiten absoluter Faulheit, beides ganz zufällig und prinziplos abwechselnd. Wahrscheinlich mit Recht hat man, wenigstens für die nördlicheren Länder, mit dem pflugmäſsigen Ackerbau erst eine feste Ordnung der Thätigkeiten, einen sinnvollen Rhythmus von Anspannung und Abspannung der Kräfte beginnen lassen. Diese Rhythmik erreicht ihren äuſsersten Grad etwa bei der höheren Fabrik- arbeit und bei der Arbeit in Bureaus jeder Art. Auf den Gipfeln der kulturellen Thätigkeit, der wissenschaftlichen, politischen, künstlerischen, kommerziellen, pflegt sie wieder stark herabzusinken; so daſs sogar, wenn wir etwa von einem Schriftsteller hören, daſs er täglich zu gleicher Minute die Feder in die Hand nimmt und sie zu gleicher wieder fortlegt, dieser stationäre Rhythmus der Produktion uns gegen ihre Inspiration und innere Bedeutung miſstrauisch macht. Aber auch innerhalb des Lohnarbeitertums führt die Entwicklung, wenn auch aus ganz andern Motiven, zu Ungleichmäſsigkeit und Unberechenbarkeit als der späteren Stufe. Bei dem Aufkommen der englischen Groſsindustrie litten die
Simmel, Philosophie des Geldes. 34
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viel gründlicher ausschöpfen. Deshalb sehen wir zwar auf manchen
Gebieten den Rhythmus als das spätere, das rationalistisch-systema-
tische Prinzip als die nicht zu überwindende Entwicklungsstufe, andere
aber lassen diese der Gestaltung von Fall zu Fall Platz machen und
lösen die Vorbestimmtheit des mitgebrachten Schemas in die wechseln-
den Ansprüche der Sache selbst auf. So sehen wir z. B. daſs erst in
höheren Kulturverhältnissen die Einrichtung regelmäſsiger Mahlzeiten
den Tag im allgemeinen rhythmisch gliedert; eine Mehrzahl fester
täglicher Mahlzeiten scheint bei keinem Naturvolk vorzukommen. Im
Gegensatz dazu haben wir freilich schon oben bemerkt, daſs in Bezug
auf das Ganze der Ernährung Naturvölker oft einen regelmäſsigen
Rhythmus von Entbehrungsperioden und Zeiten schwelgerischen Verjubelns
haben, den die höhere Wirtschaftstechnik völlig abgelegt hat. Allein
jene Gleichmäſsigkeit täglicher Mahlzeiten erreicht ihre groſse Stabilität
zwar auf sehr hohen, vielleicht aber doch nicht auf den allerhöchsten
Stufen der sozialen und geistigen Skala. In der obersten Gesell-
schaftsschicht erleidet dieselbe durch den Beruf, die Geselligkeit und
komplizierte Rücksichten vielerlei Art wieder manchen Abbruch, und
zu eben demselben werden den Künstler und den Gelehrten die
wechselnden Anforderungen der Sache wie der Stimmungen des Tages
veranlassen. Dies weist schon darauf hin, wie sehr der Rhythmus der
Mahlzeiten — und sein Gegenteil — dem der Arbeit entspricht. Auch
hier lassen verschiedne Reihen ganz verschiedne Verhältnisse erkennen.
Der Naturmensch arbeitet genau so unregelmäſsig, wie er iſst. Auf
gewaltige Kraftanstrengungen, zu denen die zufällige Not oder Laune
ihn treibt, folgen Zeiten absoluter Faulheit, beides ganz zufällig und
prinziplos abwechselnd. Wahrscheinlich mit Recht hat man, wenigstens
für die nördlicheren Länder, mit dem pflugmäſsigen Ackerbau erst
eine feste Ordnung der Thätigkeiten, einen sinnvollen Rhythmus von
Anspannung und Abspannung der Kräfte beginnen lassen. Diese
Rhythmik erreicht ihren äuſsersten Grad etwa bei der höheren Fabrik-
arbeit und bei der Arbeit in Bureaus jeder Art. Auf den Gipfeln der
kulturellen Thätigkeit, der wissenschaftlichen, politischen, künstlerischen,
kommerziellen, pflegt sie wieder stark herabzusinken; so daſs sogar, wenn
wir etwa von einem Schriftsteller hören, daſs er täglich zu gleicher
Minute die Feder in die Hand nimmt und sie zu gleicher wieder fortlegt,
dieser stationäre Rhythmus der Produktion uns gegen ihre Inspiration
und innere Bedeutung miſstrauisch macht. Aber auch innerhalb des
Lohnarbeitertums führt die Entwicklung, wenn auch aus ganz andern
Motiven, zu Ungleichmäſsigkeit und Unberechenbarkeit als der späteren
Stufe. Bei dem Aufkommen der englischen Groſsindustrie litten die
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 529. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/553>, abgerufen am 22.11.2024.
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