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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700.

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ARTIC. IV. SECTIO XIV.
kund gewesen/ hat man sie zwahr auch dahin zuführen/ daß sie sich bey fühlung der
natürlichen schwachheit auch ihrer sündlichen verderbnus erinnern/ oder von Gott
erinnern lassen/ am meisten aber dahin zutrachten/ daß ihr glaube durch die er-
känntnüs und betrachtung der bereits habenden theuren gnaden- und heils schä-
tze stattlich gestärcket und also die verwesung des äusserlichen durch tägliche erneu-
erung des neuen menschen seliglich ersetzet werde. Daher sie mit den Evange-
lischen materien sonderlich erhalten/ und ihnen zu solchem meditationibus anlaß
gegeben werden solle: da dann die stäte erwegung der tauff und dero güter wol fast
der kürtzeste innhalt von allen übrigen sein möchte. Was endlich der beichtstuhl
anlangt/ ist er wol des jenigen über welchen am aller wenigsten fast meinem eige-
nen und anderer gewissen ein gnüge zuthun vermag. Zwahr ist solche kirchliche ver-
ordnung (darvor wir ihm allein zu halten haben) an sich gut gemeint/ und wo die
verfassungen recht wären/ würde sie eine stattliche gelegenheit vieler erbauung seyn/
aber in gegenwärtigen zustand/ als es ietzt darmit hergehet/ sorge ich/ daß wir
am meisten orten mehr den mißbrauch als den rechten gebrauch übrig haben. Der
rechte gebrauch bestünde darinnen/ das man mit allen beichtkindern nach gnüge
und besonders handeln/ sich ihres zustandes was die wissenschafft anlangt erkun-
digen/ die unwissend befundene besser unterrichten/ mit jedem über den zustand
seines gewissens absonderlich handlen/ den jenigen/ an dero leben man mangel o-
der zweiffel hat/ beweglich zusprechen/ die gefahr der unwürdigen niessung deut-
lich vorhalten/ und sie verwarnen/ die betrübte und niedergeschlagene hingegen
kräfftig trösten und stärcken und also daselbs gesetz und Evangelium recht anwen-
den solte. Hingegen ist der mißbrauch/ daß alle sichere leute bey ihrem fortwäh-
renden sündlichen leben/ weil sie gleichwol die absolution allezeit haben
könten/ desto mehr sich verstocken lassen/ aber damit sich selbs am schendlichsten
betriegen. Daß dieses fast das gemeine seye/ was immer geschehe/ ist kaum
zuleugnen/ daß aber jene zwecke/ die doch unsere kirche in beybehaltung solcher
ordnung vor augen gehabt hat/ erhalten werden möchten/ werden alle christliche
Prediger klagen/ daß an den meisten orten zeit/ ort/ gelegenheit und ander darzu
erfordertes mangle/ also das die gern wolten/ nicht einmal so weit kommen kön-
nen. Jndessen liegt uns doch ob/ so wol daß wir zum öfftern die leute darvon in
predigten und sonsten unterrichten/ daß an keinem unbußfertigen einige absolu-
tion
kräfftig seye/ sondern solche allezeit desselben gericht vermehre: als auch mit
allen dem absonderlichen zuspruch handlen/ daß es keiner der gnade fähigen per-
son an trost mangle/ hingegen derselbe auch also eingerichtet werde/ daß keiner/
den sein hertz seiner unbußfertigkeit innerlich überzeuget/ oder wir ihm sie zu er-
kennen gnugsam anlaß gegeben haben/ sich derselben ohne widerspruch seines ge-
wissens ruhig annehmen könne. Haben wir solches gethan/ so hoffe ich/ Gott

werde

ARTIC. IV. SECTIO XIV.
kund geweſen/ hat man ſie zwahr auch dahin zufuͤhren/ daß ſie ſich bey fuͤhlung der
natuͤrlichen ſchwachheit auch ihrer ſuͤndlichen verderbnus erinnern/ oder von Gott
erinnern laſſen/ am meiſten aber dahin zutrachten/ daß ihr glaube durch die er-
kaͤnntnuͤs und betrachtung der bereits habenden theuren gnaden- und heils ſchaͤ-
tze ſtattlich geſtaͤrcket und alſo die verweſung des aͤuſſerlichen durch taͤgliche erneu-
erung des neuen menſchen ſeliglich erſetzet werde. Daher ſie mit den Evange-
liſchen materien ſonderlich erhalten/ und ihnen zu ſolchem meditationibus anlaß
gegeben werden ſolle: da dann die ſtaͤte erwegung der tauff und dero guͤter wol faſt
der kuͤrtzeſte innhalt von allen uͤbrigen ſein moͤchte. Was endlich der beichtſtuhl
anlangt/ iſt er wol des jenigen uͤber welchen am aller wenigſten faſt meinem eige-
nen und anderer gewiſſen ein gnuͤge zuthun vermag. Zwahr iſt ſolche kirchliche ver-
ordnung (darvor wir ihm allein zu halten haben) an ſich gut gemeint/ und wo die
verfaſſungen recht waͤren/ wuͤrde ſie eine ſtattliche gelegenheit vieler erbauung ſeyn/
aber in gegenwaͤrtigen zuſtand/ als es ietzt darmit hergehet/ ſorge ich/ daß wir
am meiſten orten mehr den mißbrauch als den rechten gebrauch uͤbrig haben. Der
rechte gebrauch beſtuͤnde darinnen/ das man mit allen beichtkindern nach gnuͤge
und beſonders handeln/ ſich ihres zuſtandes was die wiſſenſchafft anlangt erkun-
digen/ die unwiſſend befundene beſſer unterrichten/ mit jedem uͤber den zuſtand
ſeines gewiſſens abſonderlich handlen/ den jenigen/ an dero leben man mangel o-
der zweiffel hat/ beweglich zuſprechen/ die gefahr der unwuͤrdigen nieſſung deut-
lich vorhalten/ und ſie verwarnen/ die betruͤbte und niedergeſchlagene hingegen
kraͤfftig troͤſten und ſtaͤrcken und alſo daſelbs geſetz und Evangelium recht anwen-
den ſolte. Hingegen iſt der mißbrauch/ daß alle ſichere leute bey ihrem fortwaͤh-
renden ſuͤndlichen leben/ weil ſie gleichwol die abſolution allezeit haben
koͤnten/ deſto mehr ſich verſtocken laſſen/ aber damit ſich ſelbs am ſchendlichſten
betriegen. Daß dieſes faſt das gemeine ſeye/ was immer geſchehe/ iſt kaum
zuleugnen/ daß aber jene zwecke/ die doch unſere kirche in beybehaltung ſolcher
ordnung vor augen gehabt hat/ erhalten werden moͤchten/ werden alle chriſtliche
Prediger klagen/ daß an den meiſten orten zeit/ ort/ gelegenheit und ander darzu
erfordertes mangle/ alſo das die gern wolten/ nicht einmal ſo weit kommen koͤn-
nen. Jndeſſen liegt uns doch ob/ ſo wol daß wir zum oͤfftern die leute darvon in
predigten und ſonſten unterrichten/ daß an keinem unbußfertigen einige abſolu-
tion
kraͤfftig ſeye/ ſondern ſolche allezeit deſſelben gericht vermehre: als auch mit
allen dem abſonderlichen zuſpruch handlen/ daß es keiner der gnade faͤhigen per-
ſon an troſt mangle/ hingegen derſelbe auch alſo eingerichtet werde/ daß keiner/
den ſein hertz ſeiner unbußfertigkeit innerlich uͤberzeuget/ oder wir ihm ſie zu er-
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wiſſens ruhig annehmen koͤnne. Haben wir ſolches gethan/ ſo hoffe ich/ Gott

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[55/0855] ARTIC. IV. SECTIO XIV. kund geweſen/ hat man ſie zwahr auch dahin zufuͤhren/ daß ſie ſich bey fuͤhlung der natuͤrlichen ſchwachheit auch ihrer ſuͤndlichen verderbnus erinnern/ oder von Gott erinnern laſſen/ am meiſten aber dahin zutrachten/ daß ihr glaube durch die er- kaͤnntnuͤs und betrachtung der bereits habenden theuren gnaden- und heils ſchaͤ- tze ſtattlich geſtaͤrcket und alſo die verweſung des aͤuſſerlichen durch taͤgliche erneu- erung des neuen menſchen ſeliglich erſetzet werde. Daher ſie mit den Evange- liſchen materien ſonderlich erhalten/ und ihnen zu ſolchem meditationibus anlaß gegeben werden ſolle: da dann die ſtaͤte erwegung der tauff und dero guͤter wol faſt der kuͤrtzeſte innhalt von allen uͤbrigen ſein moͤchte. Was endlich der beichtſtuhl anlangt/ iſt er wol des jenigen uͤber welchen am aller wenigſten faſt meinem eige- nen und anderer gewiſſen ein gnuͤge zuthun vermag. Zwahr iſt ſolche kirchliche ver- ordnung (darvor wir ihm allein zu halten haben) an ſich gut gemeint/ und wo die verfaſſungen recht waͤren/ wuͤrde ſie eine ſtattliche gelegenheit vieler erbauung ſeyn/ aber in gegenwaͤrtigen zuſtand/ als es ietzt darmit hergehet/ ſorge ich/ daß wir am meiſten orten mehr den mißbrauch als den rechten gebrauch uͤbrig haben. Der rechte gebrauch beſtuͤnde darinnen/ das man mit allen beichtkindern nach gnuͤge und beſonders handeln/ ſich ihres zuſtandes was die wiſſenſchafft anlangt erkun- digen/ die unwiſſend befundene beſſer unterrichten/ mit jedem uͤber den zuſtand ſeines gewiſſens abſonderlich handlen/ den jenigen/ an dero leben man mangel o- der zweiffel hat/ beweglich zuſprechen/ die gefahr der unwuͤrdigen nieſſung deut- lich vorhalten/ und ſie verwarnen/ die betruͤbte und niedergeſchlagene hingegen kraͤfftig troͤſten und ſtaͤrcken und alſo daſelbs geſetz und Evangelium recht anwen- den ſolte. Hingegen iſt der mißbrauch/ daß alle ſichere leute bey ihrem fortwaͤh- renden ſuͤndlichen leben/ weil ſie gleichwol die abſolution allezeit haben koͤnten/ deſto mehr ſich verſtocken laſſen/ aber damit ſich ſelbs am ſchendlichſten betriegen. Daß dieſes faſt das gemeine ſeye/ was immer geſchehe/ iſt kaum zuleugnen/ daß aber jene zwecke/ die doch unſere kirche in beybehaltung ſolcher ordnung vor augen gehabt hat/ erhalten werden moͤchten/ werden alle chriſtliche Prediger klagen/ daß an den meiſten orten zeit/ ort/ gelegenheit und ander darzu erfordertes mangle/ alſo das die gern wolten/ nicht einmal ſo weit kommen koͤn- nen. Jndeſſen liegt uns doch ob/ ſo wol daß wir zum oͤfftern die leute darvon in predigten und ſonſten unterrichten/ daß an keinem unbußfertigen einige abſolu- tion kraͤfftig ſeye/ ſondern ſolche allezeit deſſelben gericht vermehre: als auch mit allen dem abſonderlichen zuſpruch handlen/ daß es keiner der gnade faͤhigen per- ſon an troſt mangle/ hingegen derſelbe auch alſo eingerichtet werde/ daß keiner/ den ſein hertz ſeiner unbußfertigkeit innerlich uͤberzeuget/ oder wir ihm ſie zu er- kennen gnugſam anlaß gegeben haben/ ſich derſelben ohne widerſpruch ſeines ge- wiſſens ruhig annehmen koͤnne. Haben wir ſolches gethan/ ſo hoffe ich/ Gott werde

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken01_1700/855>, abgerufen am 22.11.2024.