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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 2. Halle (Saale), 1701.

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ARTIC. III. SECTIO I.
schlechterdings oder allezeit meine leibliche erhaltung/ sondern auch vielmehr
zum werckzeug göttlicher gnaden/ wie diese mich anweiset/ gebrauchen zu las-
sen/ mir befiehlet/ so tringet die leibliche erhaltung des nechsten der meinigen
zuweilen vor/ abermal nicht aus mehrer liebe/ sondern aus der wahl göttlicher
ordnung/ welche zeiget/ daß es dißmal auch mir besser seye/ mein leben für des
nechsten seines hinzugeben/ als es zu erhalten. Denn daß nicht allezeit aus
der hindansetzung des einen gegen den andern eine mehrere liebe geschlossen
werden könne/ zeiget sich an vielen exempeln: als wo wir setzen/ daß ich ihrer
mehrere/ die mir alle gleich lieb sind/ und sie daher gern alle errettet haben
wolte/ in wassers- oder feuers-gefahr sehe/ von welchen ich nicht mehr als einen
einigen retten kan/ da rette ich denjenigen/ der mir entweder gleich der nechste
vorkommt/ oder für den andern ursachen sich gleich darstellen/ warum ihm ein
vorzug gebühret/ ohne daß ich sonsten denselben mehr liebte. Also wo es auch
so zu reden aufdie wahl kommt zwischen meiner und des nechsten liebe/ kön-
nen ursachen aus der göttlichen liebe/ so die herrschafft über die liebe der an-
dern taffel behält/ vorkommen/ die bey gleichbleibender liebe dannoch was des
nechsten ist/ dem meinigen vorzuziehen/ erfordern.

Vielleicht möchte die antwort am deutlichsten seyn/ daß beyderley liebe/
die meinige und des nechsten/ an sich gleich bleiben/ aber wo dero würckungen
gegen mich und den nechsten nicht gleich gehen können/ sondern diß und jenes
des meinigen oder was des nechsten ist/ dem andern weichen solle/ die erwe-
gung göttlicher liebe den ausschlag gibet/ und man alsdann den himmlischen
Vater anzuruffen hat/ uns darinnen nach seinem rath zu regiren.

2.
Wie fern man bey dem Ch[r]istenthum seine beruffs-arbeit könne
abwarten?

HJe ist zu mercken 1. es werde von wahrhafftig göttlichem beruff/ und also
unsündlichen arbeiten/ geredet. Jndem man vielleicht einige professio-
nen finden mag/ dero verrichtungen wo nicht gar in ihrer natur sündlich sind/
doch einem Christen keine gelegenheit geben/ GOttes ehre und des nechsten
bestes zu befördern/ oder dero verrichtungen ohne eigenliche mitwirckung zur
sünde nicht oder kaum geschehen können/ dann weil in jener einer mit autem
gewissen nie stehen kan/ diese aber wegen der gefahr auch auffs förderlichste zu
verlassen schuldig ist/ bedarff man darvon nicht weiter zu reden/ sondern die
frage ist von solchen lebens-arten/ welche an sich gut/ und darinnen man GOtt
und dem nechsten nützliche dienste leisten kan.

2. Man muß die frage auch verstehen von arbeiten/ die nicht allein an
sich selbs gut sind/ sondern auch nach göttlicher ordnung in dem glauben ge-

than/

ARTIC. III. SECTIO I.
ſchlechterdings oder allezeit meine leibliche erhaltung/ ſondern auch vielmehr
zum werckzeug goͤttlicher gnaden/ wie dieſe mich anweiſet/ gebrauchen zu laſ-
ſen/ mir befiehlet/ ſo tringet die leibliche erhaltung des nechſten der meinigen
zuweilen vor/ abermal nicht aus mehrer liebe/ ſondern aus der wahl goͤttlicher
ordnung/ welche zeiget/ daß es dißmal auch mir beſſer ſeye/ mein leben fuͤr des
nechſten ſeines hinzugeben/ als es zu erhalten. Denn daß nicht allezeit aus
der hindanſetzung des einen gegen den andern eine mehrere liebe geſchloſſen
werden koͤnne/ zeiget ſich an vielen exempeln: als wo wir ſetzen/ daß ich ihrer
mehrere/ die mir alle gleich lieb ſind/ und ſie daher gern alle errettet haben
wolte/ in waſſers- oder feuers-gefahr ſehe/ von welchen ich nicht mehr als einen
einigen retten kan/ da rette ich denjenigen/ der mir entweder gleich der nechſte
vorkommt/ oder fuͤr den andern urſachen ſich gleich darſtellen/ warum ihm ein
vorzug gebuͤhret/ ohne daß ich ſonſten denſelben mehr liebte. Alſo wo es auch
ſo zu reden aufdie wahl kommt zwiſchen meiner und des nechſten liebe/ koͤn-
nen urſachen aus der goͤttlichen liebe/ ſo die herrſchafft uͤber die liebe der an-
dern taffel behaͤlt/ vorkommen/ die bey gleichbleibender liebe dannoch was des
nechſten iſt/ dem meinigen vorzuziehen/ erfordern.

Vielleicht moͤchte die antwort am deutlichſten ſeyn/ daß beyderley liebe/
die meinige und des nechſten/ an ſich gleich bleiben/ aber wo dero wuͤrckungen
gegen mich und den nechſten nicht gleich gehen koͤnnen/ ſondern diß und jenes
des meinigen oder was des nechſten iſt/ dem andern weichen ſolle/ die erwe-
gung goͤttlicher liebe den ausſchlag gibet/ und man alsdann den himmliſchen
Vater anzuruffen hat/ uns darinnen nach ſeinem rath zu regiren.

2.
Wie fern man bey dem Ch[r]iſtenthum ſeine beruffs-arbeit koͤnne
abwarten?

HJe iſt zu mercken 1. es werde von wahrhafftig goͤttlichem beruff/ und alſo
unſuͤndlichen arbeiten/ geredet. Jndem man vielleicht einige profeſſio-
nen finden mag/ dero verrichtungen wo nicht gar in ihrer natur ſuͤndlich ſind/
doch einem Chriſten keine gelegenheit geben/ GOttes ehre und des nechſten
beſtes zu befoͤrdern/ oder dero verrichtungen ohne eigenliche mitwirckung zur
ſuͤnde nicht oder kaum geſchehen koͤnnen/ dann weil in jener einer mit autem
gewiſſen nie ſtehen kan/ dieſe aber wegen der gefahr auch auffs foͤrderlichſte zu
verlaſſen ſchuldig iſt/ bedarff man darvon nicht weiter zu reden/ ſondern die
frage iſt von ſolchen lebens-arten/ welche an ſich gut/ und darinnen man GOtt
und dem nechſten nuͤtzliche dienſte leiſten kan.

2. Man muß die frage auch verſtehen von arbeiten/ die nicht allein an
ſich ſelbs gut ſind/ ſondern auch nach goͤttlicher ordnung in dem glauben ge-

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[271/0279] ARTIC. III. SECTIO I. ſchlechterdings oder allezeit meine leibliche erhaltung/ ſondern auch vielmehr zum werckzeug goͤttlicher gnaden/ wie dieſe mich anweiſet/ gebrauchen zu laſ- ſen/ mir befiehlet/ ſo tringet die leibliche erhaltung des nechſten der meinigen zuweilen vor/ abermal nicht aus mehrer liebe/ ſondern aus der wahl goͤttlicher ordnung/ welche zeiget/ daß es dißmal auch mir beſſer ſeye/ mein leben fuͤr des nechſten ſeines hinzugeben/ als es zu erhalten. Denn daß nicht allezeit aus der hindanſetzung des einen gegen den andern eine mehrere liebe geſchloſſen werden koͤnne/ zeiget ſich an vielen exempeln: als wo wir ſetzen/ daß ich ihrer mehrere/ die mir alle gleich lieb ſind/ und ſie daher gern alle errettet haben wolte/ in waſſers- oder feuers-gefahr ſehe/ von welchen ich nicht mehr als einen einigen retten kan/ da rette ich denjenigen/ der mir entweder gleich der nechſte vorkommt/ oder fuͤr den andern urſachen ſich gleich darſtellen/ warum ihm ein vorzug gebuͤhret/ ohne daß ich ſonſten denſelben mehr liebte. Alſo wo es auch ſo zu reden aufdie wahl kommt zwiſchen meiner und des nechſten liebe/ koͤn- nen urſachen aus der goͤttlichen liebe/ ſo die herrſchafft uͤber die liebe der an- dern taffel behaͤlt/ vorkommen/ die bey gleichbleibender liebe dannoch was des nechſten iſt/ dem meinigen vorzuziehen/ erfordern. Vielleicht moͤchte die antwort am deutlichſten ſeyn/ daß beyderley liebe/ die meinige und des nechſten/ an ſich gleich bleiben/ aber wo dero wuͤrckungen gegen mich und den nechſten nicht gleich gehen koͤnnen/ ſondern diß und jenes des meinigen oder was des nechſten iſt/ dem andern weichen ſolle/ die erwe- gung goͤttlicher liebe den ausſchlag gibet/ und man alsdann den himmliſchen Vater anzuruffen hat/ uns darinnen nach ſeinem rath zu regiren. 2. Wie fern man bey dem Chriſtenthum ſeine beruffs-arbeit koͤnne abwarten? HJe iſt zu mercken 1. es werde von wahrhafftig goͤttlichem beruff/ und alſo unſuͤndlichen arbeiten/ geredet. Jndem man vielleicht einige profeſſio- nen finden mag/ dero verrichtungen wo nicht gar in ihrer natur ſuͤndlich ſind/ doch einem Chriſten keine gelegenheit geben/ GOttes ehre und des nechſten beſtes zu befoͤrdern/ oder dero verrichtungen ohne eigenliche mitwirckung zur ſuͤnde nicht oder kaum geſchehen koͤnnen/ dann weil in jener einer mit autem gewiſſen nie ſtehen kan/ dieſe aber wegen der gefahr auch auffs foͤrderlichſte zu verlaſſen ſchuldig iſt/ bedarff man darvon nicht weiter zu reden/ ſondern die frage iſt von ſolchen lebens-arten/ welche an ſich gut/ und darinnen man GOtt und dem nechſten nuͤtzliche dienſte leiſten kan. 2. Man muß die frage auch verſtehen von arbeiten/ die nicht allein an ſich ſelbs gut ſind/ ſondern auch nach goͤttlicher ordnung in dem glauben ge- than/

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 2. Halle (Saale), 1701, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken02_1701/279>, abgerufen am 22.11.2024.